Читать онлайн Lauert бесплатно

Copyright © 2019 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Deutsche Übersetzung: Daniela L. Maerz. Außer im Rahmen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abrufsystem gespeichert werden, ohne die vorherige Genehmigung des Autors. Dieses E-Book ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses E-Book darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte ein zusätzliches Exemplar für jeden Leser. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann schicken Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihr eigenes Exemplar. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Bei diesem Werk handelt es sich um eine Fiktion. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Produkt der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Buchumschlag Copyright Korionov, verwendet unter Lizenz von Shutterstock.com.
Deutsche Übersetzung: Anna Grossmann
Blake Pierce
Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller-Mystery-Reihe RILEY PAGE, die bislang fünfzehn Bücher umfasst und fortgesetzt wird. Blake Pierce ist auch Autorin der MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, die bisher zwölf Bücher umfasst; der AVERY BLACK Mystery-Serie, die sechs Bücher umfasst; der KERI LOCKE Mystery-Serie, die fünf Bücher umfasst; und der neuen MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Serie, die bisher vier Bücher umfasst; der KATE WISE Mystery-Serie, die bisher fünf Bände umfasst; der CHLOE FINE-Psychothriller-Reihe, die bisher vier Bände umfasst; und der JESSE HUNT Psychothriller-Reihe, die bisher vier Bände umfasst.
Als begeisterte Leserin und lebenslanger Fan des Mystery- und Thriller-Genres hört Blake liebend gern von ihrer Leserschaft. Bitte besuchen Sie dazu www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und auf dem Laufenden zu bleiben.
BÜCHER VON BLAKE PIERCE
JESSE HUNT-PSYCHOTHRILLER-SERIE
DIE PERFEKTE FRAU (Band 1)
DER PERFEKTE BLOCK (Band 2)
DAS PERFEKTE HAUS (Band 3)
THE PERFECT SMILE (Book #4)
CHLOE FINE-PSYCHOTHRILLER-SERIE
NEBENAN (Buch1)
DIE LÜGE EINES NACHBARN (Buch 2)
SACKGASSE (Buch 3)
SILENT NEIGHBOR (Book #4)
KATE WISE-MYSTERY-SERIE
WENN SIE WÜSSTE (Buch 1)
WENN SIE SÄHE (Buch 2)
WENN SIE RENNEN WÜRDE (Buch 3)
WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Buch 4)
IF SHE FLED (Book #5)
DAS MAKING OF RILEY PAIGE-MYSTERY-SERIE
BEOBACHTET (Buch 1)
WARTET (Buch 2)
LOCKT (Buch 3)
TAKING (Book #4)
RILEY PAIGE-MYSTERY-SERIE
VERSCHWUNDEN (Band 1)
GEFESSELT (Band 2)
ERSEHNT (Band 3)
GEKÖDERT (Band 4)
GEJAGT (Band 5)
VERZEHRT (Band 6)
VERLASSEN (Band 7)
ERKALTET (Band 8)
VERFOLGT (Band 9)
VERLOREN (Band 10)
BEGRABEN (Band 11)
ÜBERFAHREN (Band 12)
GEFANGEN (Band 13)
RUHEND (Band 14)
GEMIEDEN (Band 15)
MACKENZIE WHITE-MYSTERY-SERIE
BEVOR ER TÖTET (Band 1)
BEVOR ER SIEHT (Band 2)
BEVOR ER BEGEHRT (Band 3)
BEVOR ER NIMMT (Band 4)
BEVOR ER BRAUCHT (Band 5)
EHE ER FÜHLT (Band 6)
EHE ER SÜNDIGT (Band 7)
BEVOR ER JAGT (Band 8)
VORHER PLÜNDERT ER (Band 9)
VORHER SEHNT ER SICH (Band 10)
BEFORE HE LAPSES (Book #11)
BEFORE HE ENVIES (Book #12)
AVERY BLACK-MYSTERY-SERIE
DAS MOTIV (Band 1)
LAUF (Band 2)
VERBORGEN (Band 3)
GRÜNDE DER ANGST (Band 4)
RETTE MICH (Band 5)
ANGST (Band 6)
KERI LOCKE-MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (Buch 1)
EINE SPUR VON MORD (Buch 2)
EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Buch 3)
EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4)
EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch 5)
Prolog
Hope Nelson lies noch einmal einen letzten Blick durch den Laden schweifen, bevor sie ihn über Nacht abschließen würde. Sie war müde. Es war ein langer, sich träge dahinschleppender Geschäftstag gewesen. Mitternacht war durch und sie war schon seit dem Morgen des vergangenen Tages hier.
Sie war jetzt alleine, da sie die letzten ihrer murrenden Angestellten ein wenig früher nach Hause geschickt hatte. Keiner ihrer Beschäftigten machte am Samstag gerne die Spätschicht. Unter der Woche schloss der Laden immer um 17 Uhr, was eher nach dem allgemeinen Geschmack war.
Sie hatte nicht viel Verständnis für die Angestellten.
Da ihr und ihrem Mann Mason der Laden gehörte, hieß das eben auch, mehr Stunden dort zu verbringen als alle anderen – meistens waren sie die ersten und auch die letzten im Geschäft. Es war für Hope kein Geheimnis, dass die Hiesigen sie und Mason verachteten, weil sie die reichsten Leute in der unbedeutenden Kleinstadt Dighton waren.
Genauso aber hegte sie Verachtung für die Hiesigen.
Ihr persönliches Credo war …
Geld bedeutet Verantwortung.
Sie nahm ihre vielen Verpflichtungen ernst und Mason tat das genauso. Er hatte das Amt des Bürgermeisters inne. Beide gehörten zu der Art Menschen, die sich keinen Urlaub nahmen und nicht einmal gelegentlich einen Tag frei machten. Manchmal war Hope der Ansicht, dass sie und Mason die einzigen weit und breit waren, die sich nicht um alles nur einen feuchten Kehricht scherten.
Als sie die wohlgeordnete Handelsware betrachtete – die Eisenwaren und die Bauwerkzeuge, das Tierfutter, die Samen und den Dünger, dachte sie oftmals …
Dighton würde keinen Tag ohne uns überleben.
Eigentlich, so schätzte sie, könnte dies auch gleich für das ganze Land gelten.
Manchmal träumte sie davon, ihrer beider Siebensachen zu packen und wegzugehen – einfach um den Beweis dafür zu liefern.
Das geschähe allen recht.
Sie löschte die Lichter mit einem konsternierten Seufzer. Als sie gerade die Hand ausstreckte, um die Alarmanlage scharf zu machen, bemerkte sie durch die Glastür eine Gestalt. Ein Mann stand auf dem Gehweg unter der Straßenlaterne, ungefähr 10 Meter von ihr entfernt.
Er schien sie direkt anzustarren.
Entsetzt bemerkte sie, dass sein Gesicht zerfurcht war und schlimme Narben trug – sie hatte keine Ahnung, ob dies ein Geburtsfehler war oder ob es von einem schrecklichen Unfall herrührte. Er trug ein T-Shirt, daher konnte sie sehen, dass seine Arme und Hände gleichermaßen entstellt waren.
Es muss sehr schwer für ihn sein, so durchs Leben zu kommen, dachte sie.
Aber warum ausgerechnet stand er da so spät am Samstagabend? War er heute schon einmal im Laden gewesen? Wenn ja, dann musste einer ihrer Angestellten ihm geholfen haben. Sie hatte totsicher nicht damit gerechnet, ihn oder auch irgendjemanden anderen nach Ladenschluss da draußen stehen zu sehen.
Aber da stand er. Er starrte sie an und lächelte.
Was wollte er von ihr?
Was immer es auch war, das hieß wohl, dass Hope höchstpersönlich mit ihm sprechen musste. Das beunruhigte sie. Es würde anstrengend sein, so zu tun, als bemerkte sie sein Gesicht nicht.
Mit einem eindeutig flauen Gefühl im Magen tippte Hope den Alarmcode ein, trat aus dem Laden und verschloss die Eingangstür. Die warme Nachtluft tat gut, nachdem sie im Laden den lieben langen Tag mit widerlichen Gerüchen eingeschlossen gewesen war. Am auffälligsten roch der Dünger.
Als sie auf den Mann zuging, zwang sie sich zu einem freundlichen Gesicht und rief ihm zu …
»Es tut mir leid, wir haben zu.«
Er zuckte mit den Schultern, hörte nicht auf zu lächeln und murmelte lautlos etwas vor sich hin.
Hope unterdrückte ein Seufzen. Sie wollte ihn bitten, lauter zu sprechen. Aber es erschien ihr schwierig, ihm irgendetwas zu sagen, was einem Befehl oder selbst einer höflichen Bitte glich. Sie hatte die irrationale Angst, seine Gefühle zu verletzen.
Sein Lächeln wurde noch breiter, als sie auf ihn zuging. Er sagte abermals etwas, was sie nicht verstehen konnte. Sie blieb nur wenige Schritte vor ihm stehen.
»Entschuldigen Sie, aber wir haben für heute geschlossen,« sagte sie.
Er sagte etwas Unverständliches. Sie schüttelte den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass sie nichts hörte.
Er sprach eine winzige Nuance lauter, und dieses Mal konnte sie die Worte vernehmen …
»Ich habe da ein kleines Problem mit einer Sache.«
Hope fragte, »Worum geht es denn?«
Er murmelte wieder etwas Unhörbares.
Vielleicht möchte er etwas zurückgeben, was er heute gekauft hat, dachte sie.
Das letzte, was sie im Moment wollte, war, die Ladentür wieder aufzuschließen und die Alarmanlage zu deaktivieren, bloß, um die Ware zurückzunehmen und ihm sein Geld dafür zu geben.
Hope sagte, »Wenn Sie etwas zurückgeben wollen, fürchte ich, dass Sie morgen noch einmal kommen müssen.«
Der entstellte Mann murmelte …
»Nein, aber …«
Dann zuckte er leise mit den Schultern, das Lächeln immer noch im Gesicht. Hope fand, dass es schwierig war, Augenkontakt zu halten. Es fiel er schwer, ihm direkt ins Gesicht zu blicken. Und irgendwie spürte sie, dass er das wusste.
Seinem Lächeln nach zu urteilen, genoss er es vielleicht sogar.
Sie unterdrückte ein Schaudern bei dem Gedanken, dass er dem Unbehagen, dass er bei Leuten erzeugte, ein persönliches Vergnügen abgewinnen könnte.
Dann sagte er ein wenig lauter und deutlicher …
»Komm schau.«
Er zeigte auf seinen alten Pickup-Truck, der in kurzer Entfernung gleich längs der Straße geparkt war. Dann drehte er sich um und lief auf den Wagen zu. Hope stand einen kurzen Augenblick lang da. Sie wollte ihm nicht folgen. Sie war sich nicht sicher, warum sie sich die Mühe machen sollte …
Was immer es auch ist, es kann sicher bis morgen warten.
Aber sie schaffte es nicht, sich umzudrehen und wegzugehen.
Abermals, hatte sie Angst davor, ihm gegenüber unhöflich zu sein.
Sie lief hinter ihm zur Rückseite des Wagens. Er zog die Plane auf der Ladefläche weg und sie sah eine Menge Stacheldraht, entflochten und lose und verheddert, über die ganze Ladefläche des Pick-up-Trucks verteilt.
Plötzlich packte er sie von hinten und klatschte ihr einen feuchten Lappen über Mund und Nase.
Hope trat nach ihm und versuchte, von ihm wegzukommen, aber er war größer und stärker als sie.
Sie konnte sich nicht einmal von diesem Lappen befreien, um zu schreien. Er war von einer dickflüssigen Substanz durchtränkt, die ekelhaft süßlich roch und schmeckte.
Dann überkam sie ein seltsames Gefühl.
Ein Schwindelgefühl vermischt mit Euphorie, als ob sie irgendeine Droge genommen hätte.
Ein paar Sekunden lang machte dieses Hochgefühl es schwer für Hope zu bergreifen, dass sie sich in schrecklicher Gefahr befand. Dann versuchte sie wieder, sich zu wehren, aber sie stellte fest, dass ihre Gliedmaßen schwächer geworden waren. Sie schienen wie aus Gummi zu sein.
Was immer der Mann versuchte ihr anzutun, sie konnte nicht dagegen ankämpfen.
Fast fühlte es sich für sie so an, als ob sie sich nicht mehr in ihrem Körper befand, als sie merkte, dass er sie hochhob und sie auf die Ladefläche seines Trucks warf, mitten in das Stacheldrahtgeflecht hinein. Die ganze Zeit über hielt er ihr den Lappen fest ins Gesicht und sie musste die starken Dämpfe einatmen.
Hope Nelson bemerkte die kleinen Einstiche am ganzen Körper kaum, als sie schlaff herabfiel und langsam das Bewusstsein verlor.
Kapitel eins
Als sie zwei Rib-Eye-Steaks vorbereitete, um sie später im Backrohr zu garen, dachte Riley Sweeney abermals… Ich möchte, dass heute Abend ein besonderer Abend wird.
Sie und ihr Verlobter, Ryan Paige, hatten viel zu viel zu tun gehabt, um in der letzten Zeit irgendetwas zusammen genießen zu können. Rileys aufreibender Terminplan als Sommer-Praktikantin beim FBI Honors Internship Program und Ryans Einstiegsjob in der Rechtsanwaltskanzlei hatten ihre gesamte Zeit und Energie in Anspruch genommen. Ryan musste heute sogar länger in der Kanzlei bleiben – am Samstag.
Rileys 22. Geburtstag war vor fast zwei Wochen gewesen und es hatte einfach keine Zeit gegeben, um ihn zu feiern. Ryan hatte ihr eine hübsche Halskette gekauft und das war es dann auch schon fast gewesen – keine Feier, kein Abendessen, kein Kuchen. Sie hoffte, dass das heutige „besondere“ Abendessen das vielleicht wieder ins Lot bringen würde.
Daneben hieß es so ziemlich jetzt oder nie, was ein nettes gemeinsames Abendessen anging. Gerade erst gestern war ihr Sommerpraktikum erfolgreich zu Ende gegangen und morgen würde sie sich an die FBI-Akademie in Quantico im Bundesstaat Virginia aufmachen. Ryan würde hier in Washington D.C. bleiben. Obwohl die Entfernung zwischen ihnen nur ungefähr eine Stunde mit dem Auto oder dem Zug betrug, würden beide von ihnen sehr hart arbeiten müssen. Sie war sich nicht sicher, wann sie und Ryan wieder einmal Zeit miteinander verbringen würden.
Riley war dem Rezept Schritt für Schritt gefolgt und würzte die Steaks abschließend mit Salz, Pfeffer, Zwiebelpulver, gemahlenen Senfsamen und den getrockneten Kräutern Oregano und Thymian. Dann stand sie nur da und sah sich in der Küche nach dem Werk ihrer Hände um. Sie hatte einen wunderbaren gemischten Salat gemacht, sie hatte Pilze aufgeschnitten, die mit den Steaks gegrillt werden sollten und die zwei Ofenkartoffeln waren schon im Rohr. Als Nachtisch stand gekaufter Käsekuchen im Kühlschrank bereit.
Der kleine Küchentisch war hübsch gedeckt. Es gab auch eine Vase mit Blumen, welche sie beim Einkaufen der Lebensmittel mitgenommen hatte. Eine Flasche erschwinglicher, aber dennoch sehr süffiger Rotwein wartete darauf, geöffnet zu werden.
Riley sah auf die Uhr. Ryan hatte gesagt, dass er jetzt um die Zeit zuhause sein würde, und sie hoffte, dass er nicht noch länger brauchen würde. Sie wollte die Steaks nicht anbraten und grillen, ehe er zur Tür hereinkam.
Unterdessen fiel ihr nichts mehr rein, was jetzt noch getan werden musste. Sie hatte den ganzen Tag damit verbracht, Wäsche zu waschen, ihre kleine Wohnung aufzuräumen, einzukaufen und das Essen herzurichten – häusliche Aufgaben, für die sie selten Zeit gehabt hatte, seit sie und Ryan zu Beginn des Sommers zusammengezogen waren. Sie fand, dass es eine nette Abwechslung zu ihrem Studienalltag war.
Trotzdem ertappte sie sich unwillkürlich bei dem Gedanken …
Würde ihr Leben genauso aussehen, wenn sie verheiratet wären?
Falls sie ihr Ziel, eine FBI-Agentin zu werden, erreichte, würde sie wirklich ganze Tage damit verbringen, alles perfekt für den Moment herzurichten, wenn Ryan von der Arbeit kam? Das war unwahrscheinlich.
In diesem Augenblick hatte Riley wirklich Mühe, sich die gemeinsame Zukunft vorzustellen – oder irgendeine konkrete Zukunft.
Sie ließ sich auf die Couch fallen.
Sie schloss die Augen und merkte, wie müde sie war.
Wir brauchen beide Urlaub, dachte sie.
Aber Urlaub stand in nächster Zeit nicht zur Debatte.
Sie fühlte sich ein wenig schläfrig und war schon fast eingedöst, als eine Erinnerung sich den Weg in ihre Gedanken bahnte …
Ihre Hände und Füße wurden von einem Irren zusammengebunden, der ein Clownskostüm und Schminke im Gesicht trug.
Er hielt ihr einen Spiegel vors Gesicht und sagte …
»So fertig. Sieh es dir an!«
Sie sah, dass er ihr Schminke über das ganze Gesicht verteilt hatte, so dass sie auch wie ein Clown aussah.
Dann hielt er eine Spritze vor ihr in die Luft. Sie wusste, sie würde aus schierem Entsetzen sterben, wenn er ihr den tödlichen Inhalt injizieren würde …
Rileys riss die Augen auf. Sie zitterte am ganzen Körper.
Erst vor ein paar Monaten war sie knapp aus den Fängen des berüchtigten sogenannten „Clown-Killers“ entkommen. Sie hatte immer noch qualvolle Rückblenden ihres Martyriums.
Als sie versuchte, die Erinnerung abzuschütteln, hörte sie, wie jemand die Treppe herunterstieg und den Flur der Souterrain-Wohnung betrat.
Ryan! Er war zuhause!
Sie sprang von der Couch und prüfte, ob im Backrohr die maximale Temperatur erreicht war. Dann löschte sie die Lichter in der Wohnung und zündete die Kerzen an, die sie auf den Tisch gestellt hatte.
Dann stürzte sie in Richtung Tür und traf dort auf Ryan, der gerade eintrat.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen Kuss. Er warf einen Blick in die mit Kerzen erleuchtete Wohnung und platzte heraus …
»Riley – verdammt noch mal, was ist denn hier los?«
Riley fühlte einen Stich der Enttäuschung und sagte: »Ich mache uns was Schönes zum Abendessen.«
Ryan trat ins Zimmer, stellte seine Aktentasche ab und ließ sich auf die Couch fallen.
»Mach dir bitte nicht die Mühe,« sagte er. »Ich hatte einen unglaublich harten Tag. Und bin nicht sehr hungrig.«
Riley setzte sich neben ihm und massierte ihm die Schultern.
Sie sagte: »Aber alles ist fast fertig. Hast du nicht vielleicht ein bisschen Hunger auf Rib-Eye-Steaks?«
»Rib-Eye-Steaks?« sagte Ryan überrascht. »Können wir uns das leisten?«
Riley kämpfte gegen den Ärger an, der in ihr aufstieg und antwortete nicht. Sie kümmerte sich um die Haushaltskasse und war der Ansicht, dass sie ziemlich gut wusste, was sie sich leisten konnten und was nicht.
Offensichtlich spürte Ryan ihre Betroffenheit und sagte …
»Rib-Eye-Steak klingt toll. Gib mir ein paar Minuten Zeit, damit ich mich frisch machen kann.«
Ryan stand auf und ging Richtung Badezimmer, Riley schnurstracks zurück in die Küche. Sie nahm die Ofenkartoffeln aus dem Rohr, briet die Steaks scharf an und garte dann die beiden Fleischstücke gut auf den Punkt.
Ryan saß schon am Tisch, als sie beide Teller mit dem Essen servierte. Er hatte bereits den Rotwein eingeschenkt.
»Danke,« sagte Ryan mit einem schwachen Lächeln, »das sieht gut aus.«
Als er sein Steak anschnitt, fügte er hinzu: »Ich fürchte, ich habe Arbeit mit Nachhause mitgebracht. Ich muss mich nach dem Essen noch darum kümmern.«
Riley schluckte einen großen, enttäuschten Seufzer hinunter. Sie hatte gehofft, dass ihr Abendessen romantischer enden würde.
Sie und Ryan aßen eine Zeitlang stillschweigend. Dann begann Ryan, sich über seinen Tag auszulassen …
»Diese Einsteigerphase in der Kanzlei – das ist wirklich Sklavenarbeit. Wir müssen die ganzen Vorbereitungen für die Partner machen – Recherchieren, Schriftsätze anfertigen und sicherstellen, dass für den Gerichtssaal alles vorbereit ist. Und dabei arbeiten wir bei weitem länger als die Partner. Die sind wie eine geheime Bruderschaft, die uns schikaniert – nur dass es niemals aufhört.« »Das wird schon besser werden,« sagte Riley
Dann zwang sie sich zu einem Lachen und fügte hinzu …
»Irgendwann bist du auch mal Partner. Und dann hast du ein Team von Frischlingen unter dir, die nach Hause gehen und sich über dich beklagen.«
Ryan lachte nicht und Riley konnte es ihm nicht einmal vorwerfen. Es war ein lahmer Witz gewesen, jetzt, da sie ihn ausgesprochen hatte.
Während des Abendessens hörte Ryan nicht auf zu meckern, und Riley wusste nicht, ob sie sich eher verletzt oder eher wütend fühlen sollte. Hatte er denn keinerlei Wertschätzung für sie übrig? Sie hatte sich doch solche Mühe gegeben, heute Abend alles so perfekt wie möglich zu machen?
Und war ihm denn nicht klar, wie sehr sich ihrer beiden Leben bald verändern würde?
Als Ryan für ein Weilchen schwieg, sagte Riley …
»Du weißt ja, dass wir morgen ein Treffen im FBI-Gebäude haben, um das Praktikumsende zu feiern. Du kommst doch, oder?«
»Leider nicht, Riley. Ich muss diese Woche durcharbeiten.«
Riley schnappte nach Luft.
»Aber morgen ist Sonntag,« sagte sie.
Ryan zog die Schultern kurz nach oben. »Na ja, wie ich dir gesagt habe – es ist eben Sklavenarbeit.«
Riley sagte: »Weißt du, es wird ja nicht den ganzen Tag dauern. Es wird einige Reden geben – die stellvertretende Direktorin und unser Ausbilder werden ein paar Worte sagen wollen. Dann gibt es eine Kleinigkeit zu essen und —«
Ryan unterbrach sie: »Es tut mir leid, Riley.«
»Aber danach werde ich gleich nach Quantico aufbrechen. Ich nehme mein Gepäck mit. Ich dachte, du kannst mich zum Bahnhof fahren.«
»Das kann ich nicht,« sagte Ryan mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. »Da musst du irgendwie anders hinkommen.«
Sie aßen stillschweigend für ein paar Augenblicke.
Riley versuchte angestrengt zu verstehen, was da gerade geschah. Warum konnte Ryan morgen denn nicht mit ihr mitkommen? Er müsste ja nur ein paar wenige Stunden darauf verwenden. Dann dämmerte ihr etwas.
Sie sagte: »Du willst immer noch nicht, dass ich nach Quantico fahre.«
Ryan stieß ein verärgertes Ächzen aus.
»Riley, bitte fang nicht wieder damit an,« sagte er.
Riley spürte, wie sie vor Wut rot anlief.
Sie sagte: »Jetzt oder nie, oder?«
Ryan erwiderte: »Du hast deine Entscheidung getroffen. Ich hatte angenommen, dass sie endgültig ist.«
Riley machte große Augen.
»Meine Entscheidung?« sagte sie. »Ich dachte, es war unsere Entscheidung.«
Ryan seufzte. »Wir werden jetzt nicht darüber sprechen,« sagte er. »Essen wir doch einfach fertig, ok?«
Riley saß da und starrte ihn an, während er weitere Bissen zu sich nahm.
Sie überlegte bei sich …
Hatte Ryan recht?
Habe ich uns beide da einfach so reinmanövriert?
Sie dachte an die Gespräche, die sie geführt hatten. Sie versuchte, sich zu erinnern. Sie versuchte, die Sache in Ordnung zu bringen. Und sie erinnerte sich daran, wie stolz Ryan auf sie gewesen war, als sie den Clown-Killer zur Strecke gebracht hatte …
»Du hast mindestens einer Frau das Leben gerettet. Du hast den Fall gelöst und damit vielleicht auch das Leben anderer gerettet. Vielleicht bist du verrückt. Aber du bist auch eine Heldin.«
Damals dachte sie, er wolle, dass sie ihre berufliche Laufbahn beim FBI macht, um weiter eine Heldin zu bleiben.
Aber gerade wo sie darüber nachdachte, kamen Riley eben exakt diese Worte von Ryan nicht in den Sinn. Er hatte niemals zu ihr gesagt …
»Ich will, dass du auf die Akademie gehst. Ich will, dass du deinen Traum weiterverfolgst.«
Riley atmete mehrmals lange und langsam durch.
Schließlich sagte sie …
»Ryan, was willst du? Für uns, meine ich?«
Ryan legte den Kopf schief, als er sie anblickte.
»Willst du das wirklich wissen?«
Riley Hals zog sich plötzlich zu.
»Ich möchte es wissen,« sagte sie. »Sag mir, was du willst.«
Ryan machte ein gequältes Gesicht. Riley fürchtete sich vor dem, was er als nächstes sagen würde.
Endlich sprach er es aus: »Ich will einfach eine Familie.«
Dann zuckte er mit den Schultern und nahm sich noch einen Bissen seines Steaks.
Mit einem Anflug von Erleichterung sagte Riley: »Das will ich doch auch.«
»Wirklich, tust du das?« fragte Ryan.
»Natürlich. Das weißt du doch.«
Ryan schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bin mir nicht so sicher, dass du selbst weißt, was du wirklich willst.«
Riley kam es vor, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Einen Augenblick lang wusste sie schlichtweg nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Dann sagte sie: »Glaubst du nicht, dass ich Karriere machen und eine Familie haben kann?«
»Doch, das glaube ich schon,« sagte Ryan. »Frauen machen das heutzutage die ganze Zeit. Soweit ich weiß, sagt man dazu: „Ich will alles haben“. Das ist knallhart und man muss planen und Opfer bringen, aber man kriegt es hin. Und ich würde dir liebend gerne damit helfen.
Aber …«
Seine Stimme versagte.
»Aber was?« fragte Riley.
Er atmete tief durch und sagte dann: »Vielleicht wäre es anders, wenn du Rechtsanwältin werden würdest, also in meine Sparte gehst. Oder Ärztin oder Psychiaterin. Oder in die Immobilienbranche. Oder deine eigene Firma gründen würdest. Oder Professorin am College. Das könnte ich alles nachvollziehen. Damit könnte ich umgehen. Aber diese ganze Sache mit der Akademie – du wirst jetzt 18 Wochen lang in Quantico sein! Wie oft werden wir uns während dieser ganzen Zeit zu Gesicht bekommen? Denkst du, dass eine Fernbeziehung so lange überlebt? Und außerdem …«
Er hielt Rileys Blick für einen Moment.
Dann sagte er: »Riley, seit ich dich kenne, bist du zwei Mal beinahe umgebracht worden.«
Riley schluckte schwer.
Er hatte natürlich recht. Das letzte Mal, als der Tod sie kurz gestreift hatte, hatte sie sich in den Fängen des Clown-Killers befunden. Davor, während des letzten Semesters am College, war sie um ein Haar von einem psychopathischen Psychologieprofessor umgebracht worden, der weiterhin auf seinen Prozess wartete, weil er zwei ihrer Kommilitoninnen ermordet hatte. Riley hatte beide Frauen gekannt. Eine davon war ihre beste Freundin und Zimmergenossin gewesen.
Durch ihre Hilfe bei der Aufklärung dieses furchtbaren Mordfalls war Riley in das Sommer-Praktikantenprogramm aufgenommen worden. Einer der Hauptgründe, warum sie daran dachte, FBI-Agentin zu werden.
Mit erstickter Stimme fragte Riley: »Willst du, dass ich nicht an die Akademie gehe? Möchtest du, dass ich morgen nicht nach Quantico fahre?«
Ryan antwortete: »Es ist doch egal, was ich will.«
Riley kämpfte jetzt mit den Tränen.
»Nein, es ist wichtig, Ryan,« sagte sie, »es macht viel aus.«
Ihre Blicke trafen sich sehr lange, wie es schien.
Dann sagte er: »Ich glaube, das möchte ich. Dass du nicht fährst, meine ich. Ich weiß, dass du es aufregend fandst; ein tolles Abenteuer war das für dich. Aber es ist an der Zeit, dass wir zwei uns häuslich niederlassen. Es ist an der Zeit, dass wir mit unserem wirklichen Leben weitermachen.«
Riley kam es plötzlich so vor, als ob sie sich in einem schlechten Traum befände, sie konnte bloß nicht aufwachen.
Unser wirkliches Leben! dachte sie.
Was bedeutete das?
Und was hieß das für sie, dass sie nicht wusste, was es bedeutete?
Sie wusste nur eine Sache mit Sicherheit …
Er will nicht, dass ich nach Quantico fahre!
Dann sagte Ryan: »Schau mal, du kannst doch alle möglichen Arten von Jobs hier in D.C. annehmen. Und du hast jede Menge Zeit zum Nachdenken, was du machen willst – langfristig gesehen. In der Zwischenzeit ist es doch nicht wichtig, ob du viel verdienst. Wir werden von dem, was ich in der Firma verdiene, nicht reich, aber für uns zwei ist es genug, und irgendwann wird es mir finanziell richtig gut gehen.«
Ryan wandte sich wieder dem Essen zu und sah erstaunlicherweise erleichtert aus – so als ob sie gerade alles besprochen hätten.
Aber hatten sie denn eigentlich etwas besprochen? Riley hatte den ganzen Sommer lang von der FBI-Akademie geträumt. Sie konnte sich nicht vorstellen, diesen Traum von jetzt auf gleich aufzugeben.
Nein, dachte sie, das kann ich einfach nicht.
Nun merkte sie, wie die Wut in ihr hochkroch.
Mit angespannter Stimme sagte sie: »Es tut mir leid, dass es dir so geht. Ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich fahre morgen nach Quantico.«
Ryan starrte sie an, als könne er seinen Ohren nicht trauen.
Riley erhob sich vom Tisch auf und sagte: »Lass dir dein restliches Essen schmecken. Es gibt noch Käsekuchen im Kühlschrank. Ich bin müde. Ich werde duschen und ins Bett gehen.«
Ehe Ryan etwas erwidern konnte, ging Riley schnell ins Badezimmer. Sie weinte ein paar Minuten und duschte sich dann lange unter heißem Wasser. Als sie ihre Pantoffeln und ihren Bademantel angezogen hatte und aus dem Badezimmer kam, sah sie, dass Ryan in der Küche saß. Er hatte den Tisch abgeräumt und arbeitete am Rechner. Er schaute nicht auf.
Riley ging ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett und weinte wieder.
Als sie sich die Augen wischte und die Nase putzte, fragte sie sich …
Warum bin ich so wütend?
Hat Ryan Unrecht?
Trägt er Schuld an irgendetwas?
Ihre Gedanken waren so verworren, dass sie die Dinge nicht klar durchdenken konnte. Und eine schreckliche Erinnerung bahnte sich wieder einmal den Weg in ihr Gedächtnis – wie sie in diesem Bett mit stechenden Schmerzen aufgewacht war und gesehen hatte, wie sie in einer Blutlache lag …
Meine Fehlgeburt.
Sie fragte sich – war das einer der Gründe, warum Ryan nicht wollte, dass sie zum FBI ging? Der Fall mit dem Clown-Killer hatte sie äußerst gestresst, als es geschah. Aber die Ärztin im Krankenhaus hatte ihr versichert, dass Stress mit ihrer Fehlgeburt nichts zu tun gehabt hätte.
Stattdessen, hatte sie gesagt, war der Abgang durch „chromosomale Anomalien“ verursacht worden.
Jetzt, wo Riley abermals darüber nachdachte, verstörte sie dieses Wort …
Anomalien.
Sie fragte sich – war sie irgendwie anomal – tief in ihr drin, wo es wirklich darauf ankam?
War sie unfähig, eine dauerhafte Beziehung zu führen, geschweige denn, eine Familie zu haben?
Als sie in den Schlaf sank, war sie sich nur einer einzigen Sache gewiss …
Ich fahre morgen nach Quantico.
Sie war schon eingeschlafen, ehe sie darüber nachdenken konnte, was wohl danach passieren würde.
Kapitel zwei
Der Mann war zufrieden, das leise Stöhnen der Frau zu hören. Er wusste, dass wie dabei war, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Genau, er konnte sehen, wie sich ihre Augen ein wenig öffneten.
Sie lag auf die Seite gedreht auf einem sägerauen Holztisch in einem kleinen Zimmer mit Lehmboden, die Wände aus Schlackenbetonsteinen und einer niedrigen Balkendecke. Sie war in zusammengerollter Körperhaltung fest verschnürt und rasch mit Industrieklebeband umwickelt worden. Ihre Beine waren straff angewinkelt und ihr fest auf die Brust gebunden worden, ihre Hände umschlagen ihre Schienbeine. Ihr auf die Seite gedrehter Kopf lag auf ihren Knien.
Sie erinnerte ihn an Aufnahmen, die er von menschlichen Föten gesehen hatte – und auch an die Küken-Embryos, die er manchmal fand, wenn er ein frisches Ei einer seiner Hühner, die er hielt, aufschlug. Sie sah so zart und unschuldig aus, es war irgendwie ein ziemlich anrührender Anblick.
Hauptsächlich erinnerte sie ihn natürlich an die andere Frau – Alice hatte sie geheißen, glaubte er. Er hatte einmal gedacht, dass Alice die Einzige wäre, die er so behandeln würde, aber dann hatte es ihm gefallen … und es gab so wenige Freuden in seinem Leben … wie könnte er damit aufhören?
»Es tut weh,« murmelte die Frau, als ob sie im Traum spräche. »Warum tut es weh?«
Er wusste, dass es daran lag, dass sie in einem dichtmaschigen Bett aus Stacheldraht lag. Das Blut tropfte bereits auf die Tischplatte. Es würde also noch ein paar weitere Flecken auf dem unbehandelten Holz geben. Nicht, dass das etwas ausmachte. Der Tisch war älter als er selbst, und er war sowieso der Einzige, der ihn zu Gesicht bekam.
Er hatte auch Schmerzen und blutete etwas. Er hatte sich geschnitten, als er sie auf die mit Stacheldraht gefüllte Ladefläche seines Pick-up-Trucks geschafft hatte. Es war schwieriger gewesen, als er erwartet hatte, weil sie stärker gegen ihn angekämpft hatte als die andere.
Sie hatte sich gekrümmt und verdreht, bis das selbst hergestellte Chloroform zu wirken begann. Aber ihr Widerstand hatte mehr und mehr nachgelassen und am Ende hatte er sie vollkommen gebändigt.
Trotzdem machten ihm Verletzungen durch scharfe Stacheln nichts aus. Er wusste aus harter Erfahrung, dass solche Einstiche ziemlich schnell heilten, selbst wenn sie schauderhafte Narben hinterließen.
Er beugte sich hinunter und sah ihr aus nächster Nähe ins Gesicht.
Ihre Augen waren jetzt fast unnatürlich weit aufgerissen. Ihre Regenbogenhaut zuckte, als sie ihn ansah.
Sie versucht immer noch, meinen Anblick zu vermeiden, stellte er fest.
Jeder verhielt sich ihm gegenüber so, wo er auch hinging. Er machte den Leuten keinen Vorwurf, wenn sie so taten, als ob er unsichtbar sei oder überhaupt nicht existierte. Manchmal sah er in den Spiegel und spielte, dass er sich verschwinden lassen konnte.
Dann murmelte die Frau abermals …
»Es tut weh.«
Er war sich sicher, dass neben den Schnitten auch ihr Kopf böse schmerzte durch die kräftige Dosis des selbst hergestellten Chloroforms. Als er das Zeug hier das erste Mal zusammengemischt hatte, war er selbst beinahe davon ohnmächtig geworden. Noch Tage danach hatten ihn stechende Kopfschmerzen geplagt. Aber die Herstellung des Chloroforms funktionierte richtig gut, deshalb würde er es auch weiterhin verwenden.
Er war bereits gut vorbereitet, was den nächsten Schritt anging. Er hatte sich feste Arbeitshandschuhe und eine dicke Steppjacke angezogen. Er würde sich jetzt nicht mehr verletzen, während er die Sache erledigte.
Er machte sich mit einem Drahtschneider an einem Bündel Stacheldraht zu schaffen. Dann umwickelte er den Körper der Frau mit einem Strang und verknotete die Enden behelfsmäßig, damit der Draht auch hielt.
Die Frau winselte laut auf und versuchte, das Klebeband durch Verdrehungen zu lockern, als die Stacheln durch ihre Haut und ihre Kleidung drangen.
Während er weiterarbeitete, sagte er …
»Du musst nicht leise sein. Wenn du willst, kannst du schreien – wenn es dir hilft.«
Er machte sich ganz sicher keine Sorgen, dass jemand sie hörte.
Sie wimmerte lauter und versuchte anscheinend zu schreien, aber ihre Stimme war schwach.
Er kicherte leise in sich hinein. Er wusste, dass sie ihre Lungen nicht ausreichend mit Atemluft füllen konnte, um loszuschreien – so wie er ihre Beine auf die Brust gebunden hatte.
Er umwickelte sie mit einem weiteren Stück Stacheldraht und zog den Strang fest zu. Er sah zu, wie das Blut aus jedem Einstich durch ihre Kleider hervorquoll, den Stoff durchnässte, sich ausbreitete und Flecken bildete, die größer waren als die Wunden selbst.
Er schlang Strang um Strang um ihren Körper, bis sie völlig umwickelt war – sie sah aus wie eine Art gigantischer Stachelkokon, kein bisschen menschenartig. Das Bündel gab alle Arten von seltsamen, leisen Lauten von sich – es seufzte, keuchte, wimmerte und stöhnte. Das Blut tropfte hier und spritzte da ein wenig, bis die ganze Tischfläche einer roten Badewanne ähnelte.
Dann trat er einen Schritt zurück und bewunderte sein Werk.
Er knipste die Deckenlampe aus und ging in die Nacht hinaus, wobei er die schwere Holztür hinter sich schloss.
Der Himmel war klar und sternenübersät. Er hörte jetzt nur noch das laute Zirpen der Grillen.
Er atmete langsam und intensiv die frische, saubere Luft ein.
Die Nacht schien gerade besonders lieblich zu sein.
Kapitel drei
Als Riley sich mit dem Rest der Praktikanten für ihr offizielles Abschlussfoto aufreihte, hörte sie, wie sich die Tür zur Empfangshalle öffnete.
Ihr Herz tat einen Sprung und sie drehte sich erwartungsvoll um, um zu sehen, wer gekommen war.
Aber es war nur Hoke Gilmer, ihr Ausbilder während des Programms, der für ein paar Minuten vor die Türe getreten war.
Riley unterdrückte ein Seufzen. Sie wusste bereits, dass Agent Crivaro heute nicht hier sein würde.
Gestern hatte er ihr zum Abschluss des Kurses gratuliert. Er meinte, er würde zusehen, zurück nach Quantico zu kommen. Es war offensichtlich, dass er schlichtweg keinen Nerv für Zeremonien oder Empfänge hatte.
Insgeheim hatte sie gehofft, dass Ryan vielleicht hereinschneien würde, um mit ihr den Abschluss des Sommer-Praktikantenprogramms zu feiern.
Natürlich wusste sie sehr wohl, dass sie nicht ernsthaft erwarten konnte, dass dies auch geschah.
Trotzdem stellte sie sich zwangsläufig vor, dass er vielleicht seine Meinung geändert hatte. Er würde auf die letzte Minute hier ankommen und sich für sein gestriges kühles Benehmen entschuldigen. Dann würde er endlich die Worte sagen, die sie so gerne von ihm hören wollte …
»Ich möchte, dass du an die Akademie gehst. Ich will, dass du deine Träume weiterverfolgst.«
Aber ganz klar, das würde nicht passieren …
Und je eher ich das kapiere, umso besser, dachte sie.
Die zwanzig Praktikanten stellten sich in drei Reihen für das Foto auf – die erste Reihe saß an einem langen Tisch und die anderen zwei Reihen standen dahinter. Da die Praktikanten in alphabetischer Reihenfolge angeordnet waren, befand sich Riley in der letzten Reihe zwischen den andern beiden Studenten, deren Nachname mit einem S begann – Naomi Strong und Rhys Seely.
Sie hatte Naomi oder Rhys nicht sonderlich gut kennengelernt.
Aber schließlich galt das beinahe für alle der anderen Praktikanten. Seit dem ersten Tag des zehnwöchigen Programms fühlte sie sich unter ihnen deplatziert. Dem einzigen Studenten, dem sie während der ganzen Zeit etwas nähergekommen war, war John Welch, der ein paar Studenten weiter links von ihr stand.
An jenem ersten Tag hatte John ihr erklärt, warum die anderen sie so komisch ansahen und über sie leise flüsterten …
»Fast jeder hier weiß, wer du bist. Du könntest also sagen, dass dein Ruf dir vorauseilt.«
Sie war schließlich die einzige Praktikantin, die schon etwas „Praktische Erfahrung“, wie man es landläufig nannte, geschnuppert hatte.
Beim Gedanken an das Wort unterdrückte sie einen weiteren Seufzer.
„Praktische Erfahrung.“
Sie fand es seltsam, die Geschehnisse damals an der Lanton Universität als „praktische Erfahrung“ zu bezeichnen. Der Begriff „Alptraum» traf es eher. Sie würde niemals in der Lage sein, diese Erinnerungen abzuschütteln, als sie ihre beiden engen Freundinnen im Studentenwohnheim mit durchschnittener Kehle in ihrem Blut liegend fand.
Das letzte, was ihr zu der Zeit eingefallen wäre, war ein Training beim FBI zu machen. Sie war in den Fall verwickelt worden, ohne überhaupt eine Wahl gehabt zu haben – und sie hatte dabei geholfen, ihn aufzuklären. Darum wusste auch so ziemlich jeder hier vom ersten Tag an, wer sie war.
Und als das Programm dann angelaufen war und alle anderen Studenten etwas über Gerichtsmedizin lernten und wie sie ihre Computer zu bedienen hatten, hatte Riley den totbringenden Clown-Killer aufgespürt. Beide Fälle waren traumatisch und lebensbedrohlich gewesen.
Ein direkter Sprung ins kalte Wasser in punkto „praktischer Erfahrung“ hatte sie bei den anderen Praktikanten nicht sonderlich beliebt gemacht. Vielmehr war die ganze Zeit über die stillschweigende Abneigung ihr gegenüber fühlbar gewesen.
Und jetzt beneideten sie mindestens eine Handvoll Praktikanten dafür, dass es nun für sie weiterging – auf die Akademie.
Wenn die wüssten, was ich durchgemacht habe, dachte sie.
Sie bezweifelte, dass sie sie dann weiterhin beneiden würden.
Sie fühlte das Entsetzen und die Schuld, wenn sie an ihre beiden ermordeten Freundinnen in Lanton dachte. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen und es verhindern, bevor es überhaupt passierte. Nicht genug damit, dass ihre Freundinnen dann noch am Leben wären – ihr eigenes Leben wäre jetzt vollkommen anders. Sie hätte einen Abschluss in Psychologie und irgendeinen 08/15-Job. Und sie würde sich ziemlich unsicher fühlen, was den Rest ihres Lebens betraf.
Und Ryan wäre überglücklich.
Sie bezweifelte jedoch, dass sie selbst glücklich sein würde. Sie hatte keine besondere Neigung zu einer bestimmten beruflichen Laufbahn an den Tag gelegt, bis sich die Möglichkeit ergeben hatte, FBI-Agentin zu werden – auch wenn es sich so anfühlte, dass der Beruf sie gewählt hatte und nicht andersherum.
Als die drei Reihen ordentlich saßen bzw. standen, erzählte Hoke Gilmer einen Witz. Damit alle lachten, wenn der Fotograf den Auslöser drückte. Riley war nicht zu Scherzen aufgelegt, deswegen erschien ihr der Witz als nicht besonders lustig. Sie war überzeugt, dass ihr Lächeln gezwungen und unsicher aussah.
Sie fühlte sich zudem nicht ganz wohl in ihrem Hosenanzug, den sie vor ein paar Monaten in einem Kleiderladen für gemeinnützige Zwecke gekauft hatte. Die meisten anderen Praktikanten waren finanziell bessergestellt als sie und auffallend besser gekleidet. Sie freute sich nicht darauf, das gerade geknipste Foto zu Gesicht zu bekommen.
Dann löste sich die Gruppe auf, um an einem anderen Tisch in der Mitte des Raumes den Imbiss und die Erfrischungsgetränke zu sich zu nehmen. Jeder scharte sich in seinem Freundesgrüppchen zusammen und wie gewöhnlich, fühlte sich Riley isoliert.
Sie bemerkte, dass Natalie Embry an Rollin Sloan hing. Er war ein Praktikant, der direkt auf einen gut bezahlten Posten als Daten-Analytiker rückte – in einem großen Büro in einer Außenstelle im Mittleren Westen.
Riley hörte eine Stimme neben sich sagen …
»Also Natalie hat sicher das bekommen, wofür sie gekommen ist, oder?«
Riley drehte sich um und sah, dass John Welch neben ihr stand.
Sie lächelte und sagte: »Also komm, John. Ist das nicht ein bisschen zynisch?«
John sagte achselzuckend: »Willst du mir erzählen, dass ich auf dem falschen Dampfer bin?«
Riley sah nochmals in Richtung Natalie, die jemandem stolz ihren brandneuen Verlobungsring präsentierte.
»Nö, wahrscheinlich nicht,« erwiderte sie.
Natalie hatte ihren Ring überall herumgezeigt, seit Rollin ihn ihr vor ein paar Tagen angesteckt hatte. Die beiden hatten sich wirklich überraschend schnell zum Pärchen entwickelt – dabei hatten sie sich vor Beginn des Sommerprogramms noch gar nicht gekannt.
John seufzte mit gespieltem Mitgefühl.
»Armer Rollin,« sagte er, »da geht er denn hin mit Gottes Gnaden – an meiner statt.«
Riley lachte laut auf. Sie wusste genau, was John meinte. Schon am allerersten Tag des Programms hatte Natalie sich auf die Suche nach einem potentiellen Verlobten gemacht. Sie hatte sogar John ins Visier genommen, bis dieser klargestellt hatte, dass er sie wirklich nicht mochte.
Riley fragte sich, ob Natalie jemals ein wirkliches Interesse am Programm gehabt hatte? Schließlich war Natalie schlau und versiert genug gewesen, um in das FBI Honors-Praktikantenprogramm aufgenommen zu werden.
Wahrscheinlich nicht, schlussfolgerte sie.
Natalie schien das Training aus demselben Grund absolviert zu haben, weswegen einige ihrer Freundinnen aufs College gegangen waren – um sich einen vielversprechenden Ehemann zu angeln.
Riley versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, mit Natalies Prioritäten durchs Leben zu gehen. Die Dinge würden sicherlich einfacher sein – zumindest dann, wenn Entscheidungen derart schablonenhaft ausfielen …
Einen Mann finden, in ein schönes Haus ziehen, ein paar Kinder bekommen …
Riley beneidete Natalie mindestens in einem Punkt: Sicherheit.
Dennoch war sich Riley sicher, dass sie sich mit einem derartigen Leben zu Tode langweilen würde – und genau deswegen stand es um Ryan und sie gerade so schlecht.
Dann sagte John: »Ich nehme an, dass du direkt nach Quantico fährst, sobald das hier vorbei ist.«
Riley antwortete: »Klar. Du auch, nehme ich an?«
John nickte, Riley fand den Gedanken aufregend, dass sie und John unter den Handvoll Praktikanten waren, die weiterführend auf die FBI-Akademie gehen würden.
Die meisten der restlichen Praktikanten freuten sich auf andere Möglichkeiten. Einige würden auf Hochschulen für Aufbaustudien gehen – auf Gebieten, die diesen Sommer ihr Interesse geweckt hatten. Andere würden neue Stellen in Laboren oder Büros direkt hier im J. Edgar-Hoover-Gebäude antreten oder in FBI-Hauptquartieren in anderen Städten. Sie würden ihre Laufbahn beim FBI als Informatiker, Daten-Analytiker und Techniker starten. Diese Jobs boten geregelte Arbeitszeiten und führten nicht zu lebensbedrohlichen Situationen.
Jobs, die Ryan befürworten wurde, dachte Riley wehmütig.
Riley hätte John fast gefragt, wie er heute nach Quantico käme. Aber natürlich wusste sie es – er würde in seinem teuren Wagen dorthin fahren. Riley überlegte kurz, ihn zu fragen, ob er sie mitnehmen könne. Schließlich würde sie sich so das Geld für das Taxi und die Zugfahrkarte sparen.
Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Sie wollte John gegenüber nicht zugeben, dass Ryan sie nicht einmal zum Bahnhof fahren würde. John war ein intelligenter Kerl und würde sicher mitkriegen, dass die Dinge zwischen ihr und Ryan nicht okay waren. Sie zog es vor, dass er darüber nichts erfuhr – zumindest nicht im Moment.
Als sie und John weiter miteinander plauderten, bemerkte sie von neuem, wie gut er aussah – kräftig und athletisch gebaut, mit kurzem, lockigem Haar und einem ansprechenden Lächeln.
Er war wohlhabend und trug einen teuren Anzug, aber Riley hielt ihm seinen Reichtum und seine Privilegien nicht vor. Seine Eltern waren beide hervorragende Rechtsanwälte in D.C., die viel im Politikgeschäft zu tun hatten. Riley bewunderte Johns Entscheidung – ein bescheideneres Leben im ehrenwerten Dienst der Strafverfolgung zu führen.
Er war ein netter Kerl, ein wahrer Idealist, und sie mochte ihn sehr gern. Sie hatten nämlich zusammengearbeitet, um den Clown-Killer-Fall zu knacken. Sie hatten heimlich mit dem Mörder, der ihnen Rätsel stellte, kommuniziert, um ihn aus seinem Versteck zu locken.
Als sie so in seiner Nähe stand und sein Lachen und das Gespräch mit ihm genoss, fragte sich Riley, inwiefern ihre Freundschaft an der Akademie sich noch intensivieren würde.
Sie würden ziemlich sicher eine Menge Zeit zusammen verbringen …
Und von Ryan werde ich weit weg sein …
Sie mahnte sich selbst zur Vorsicht, damit ihre Fantasie nicht mit ihr durchging. Zuerst einmal waren die Probleme, die sie gerade mit Ryan hatte, wahrscheinlich nur vorübergehend. Vielleicht brauchten sie einfach nur ein wenig Zeit voneinander getrennt. Dann würde ihnen auch wieder einfallen, warum sie sich überhaupt ineinander verliebt hatten.
Schließlich waren die Praktikanten mit ihrem Imbiss fertig und machten sich bereit zum Aufbruch. John winkte Riley auf dem Weg nach draußen zu. Sie lächelte ihm zu und winkte zurück. Natalie klammerte sich weiterhin an Rollin und präsentierte auf dem Weg durch die Tür immer noch ihren Ring.
Riley verabschiedete sich von ihrem Ausbilder Hoke Gilmer und der stellvertretenden Direktorin Marion Connor. Beide hatten kurze Reden vor der Gruppe gehalten und alle beglückwünscht. Dann verließ auch sie die Empfangshalle und ging zum Aufenthaltsraum, wo ihr Koffer stand.
Außer ihr war keine Menschenseele in dem großen, leeren Raum. Sie blickte sich wehmütig um. Dort hatten sich alle Praktikanten während des Sommers für diverse Treffen versammelt. Sie bezweifelte, dass sie irgendwann wieder hier zurückkäme.
Würde ihr das Praktikantenprogramm abgehen? Sie war sich nicht sicher. Sie hatte hier eine Menge gelernt und das meiste hatte ihr Spaß gemacht. Aber sie wusste, dass es definitiv an der Zeit war, zu etwas Neuem überzugehen.
Und warum bin ich dann so traurig? fragte sie sich.
Sie begriff schnell, dass es nur daran lag: Wie sie mit Ryan auseinandergegangen war. Sie dachte an ihre scharfen Worte, die sie ihm letzte Nacht an den Kopf geworfen hatte, ehe sie ins Bett gegangen war.
»Lass dir dein restliches Essen schmecken. Es gibt noch Käsekuchen im Kühlschrank. Ich bin müde. Ich werde duschen und ins Bett gehen.«
Danach hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Ryan war aufgestanden und zur Arbeit gegangen, ehe Riley am Morgen erwacht war.
Sie wünschte, sie hätte ihn nicht so angeblafft. Aber welche Wahl hatte er ihr denn gelassen? Er war nicht sehr zartfühlend mit ihren Hoffnungen und Träumen umgegangen.
Das Gewicht ihres Verlobungsrings fühlte sich am Finger komisch an. Sie streckte die Hand vor dem Gesicht aus und betrachtete ihn. Der kleine, aber hübsche Edelstein funkelte im fluoreszierenden Deckenlicht. Und sie erinnerte sich daran, wie Ryan schüchtern vor ihr niedergekniet war, um ihr einen Antrag zu machen.
Das schien jetzt schon wieder so lange her zu sein.
Nach ihrer hässlichen Verabschiedung gestern fragte sich Riley, ob sie jetzt überhaupt noch verlobt waren. War ihre Beziehung vorbei? Hatten sie miteinander Schluss gemacht, ohne es wirklich auszusprechen? Was es Zeit, Ryan zurückzulassen – ebenso wie sie alle anderen Dinge hinter sich ließ? Und war Ryan bereit, sie hinter sich zu lassen?
Einen Augenblick lang spielte sie mit der Idee, das Taxi und den Zug nach Quantico fahren zu lassen – wenigstens im Moment. Vielleicht wäre es kein Schaden, einen Tag zu spät zum Unterricht zu kommen. Vielleicht konnte sie nochmal mit Ryan sprechen, wenn er aus der Arbeit kam. Vielleicht könnten sie die Dinge zurechtrücken.
Aber sie begriff sehr schnell …
Wenn ich jetzt zu unserer Wohnung zurückfahre, fahre ich womöglich niemals nach Quantico.
Bei dem Gedanken erschauderte sie.
Irgendwie wusste sie, dass ihr Schicksal sie in Quantico erwartete und das wollte sie nicht verpassen.
Jetzt oder nie, dachte sie.
Sie nahm ihren Koffer und verließ das Gebäude. Dann nahm sie ein Taxi zum Bahnhof.
Kapitel vier
Guy Dafoe mochte es nicht besonders, morgens so früh aufzustehen. Aber wenigstens arbeitete er diesmal hart für sein eigenes Vieh und nicht für die Herden anderer Besitzer. Die notwendigen Arbeiten in der Frühe schienen nun den Aufwand wert zu sein.
Die Sonne ging gerade auf und er wusste, dass es ein schöner Tag werden sollte. Er liebte den Geruch der Felder und die Geräusche der Rinder.
Er hatte jahrelang auf größeren Viehfarmen und mit größeren Herden gearbeitet. Aber dies war sein eigenes Land, seine eigenen Tiere. Er war dabei, die Tiere zu füttern und sie nicht künstlich mit Getreide und Hormonen zu mästen. Das war eine Verschwendung der Ressourcen und das Vieh, das zum bloßen Fleischverzehr hochgezüchtet wurde, hatte ein elendes Leben. Er fühlte sich gut mit dem, was er tat.
Er hatte alle seine Ersparnisse in den Erwerb dieser Farm und einen Grundstock an Vieh gesteckt. Er wusste, dass es ein großes Risiko war. Aber er glaubte fest daran, dass es eine echte Zukunft für den Verkauf von Rindfleisch gab, bei dem die Tiere mit Gras gefüttert wurden. Es war ein Wachstumsmarkt.
Die einjährigen Kälber standen in Grüppchen um die Scheune herum, wo er sie letzte Nacht umzäunt hatte, damit er ihren Gesundheitszustand und ihr Heranwachsen überprüfen konnte. Sie beobachteten ihn und muhten sanft, so als ob sie auf ihn warteten.
Er war stolz auf seine kleine Herde Black Angus Rindern. Manchmal musste er der Versuchung widerstehen, sie zu nahe an sich heranzulassen, wie wenn sie Haustiere waren. Sie waren schließlich Tiere, die zur Nahrungsmittelerzeugung gehalten wurden. Es wäre eine schlechte Idee, an irgendeines der Tiere sein Herz zu hängen.
Heute wollte er die einjährigen Kälber auf die Weide am Straßenrand treiben. Das Feld, auf dem sie jetzt standen, war schon abgegrast. Die Grasweide mit den guten Leguminosen am Rande der Straße stand zum Abweiden bereit.
Gerade als er das Gatter weit aufschwang, bemerkte er etwas Seltsames am anderen Ende der Weide. Es sah wie ein Gewirr oder Bündel auf der hiesigen Seite in der Nähe der Straße aus.
Er murmelte laut …
»Was auch immer es ist, es ist wahrscheinlich nichts Gutes.«
Er schlüpfte durch das geöffnete Gatter und schlug es hinter sich wieder zu. Er ließ die einjährigen Kälber kurz wo sie waren. Er wollte seine Bestände nicht auf das Feld treiben, bis er herausgefunden hatte, was es mit dem komischen Gegenstand auf sich hatte.
Als er über die Weide schritt, nahm seine Verwirrung weiter zu. Es sah wie ein riesiges Stacheldrahtknäuel aus, das von einem Zaunpfosten hing. War jemandem eine Rolle von dem Zeug vom Laster gefallen, die dort irgendwie hängengeblieben war?
Aber als er näher darauf zuging, sah er, dass es keine neue Rolle war. Es war ein Geflecht von altem Draht, das in alle Richtungen gewickelt war.
Das ergab doch keinen Sinn.
Als er das Bündel erreicht hatte und es anstarrte, merkte er, dass sich in der Mitte etwas befand.
Er lehnte sich in Richtung Knäuel, betrachtete es aus der Nähe und fühlte den plötzlichen, kalten Hauch des Entsetzens.
»Was zur Hölle!» schrie er gellend und machte einen Satz zurück.
Aber vielleicht war das nur seine Einbildung. Er zwang sich, nochmals hinzuschauen.
Da war es – das Gesicht einer Frau, blass, schmerzverzerrt und mit Wundmalen übersät.
Er griff nach dem Draht, um ihn von ihr runterzuziehen, aber das ließ er schnell sein.
Das macht gar keinen Sinn, stellte er fest. Sie ist tot.
Er stolperte zum nächsten Zaunpfahl hinüber, lehnte sich darauf und musste kräftig würgen.
Reiß dich zusammen, ermahnte er sich selbst.
Er musste die Polizei anrufen – und zwar gleich.
Er taumelte rückwärts und fing dann an, in Richtung Haus zu laufen.
Kapitel fünf
Special Agent Jake Crivaro richtete sich kerzengerade auf, als das Telefon in seinem Büro klingelte.
Es war schon wieder viel zu ruhig in Quantico gewesen – seit seiner gestrigen Rückkehr.
Nun sagte ihm sein Instinkt sofort …
Ein neuer Fall.
Das war ja klar. Sobald er den Hörer abgenommen hatte, hörte er die sonore Stimme von Erik Lehl, dem befehlshabenden Special Agent …
«Crivaro, ich brauche Sie sofort hier in meinem Büro.«
Jake legte auf und griff nach seiner Notfalltasche, die er immer bereithielt. Befehlshaber Lehl war gerade noch lakonischer gewesen als für gewöhnlich, was sicher bedeutete, dass es dringend etwas zu tun gab. Crivaro war sich sicher, dass er bald irgendwo hinreisen würde – vielleicht sogar schon in der nächsten Stunde.
Er fühlte sein Herz ein klein wenig schneller schlagen, als er den Flur entlangeilte. Es war ein gutes Gefühl. Nach seinem 10-wöchigen Arbeitspensum, wo er als Mentor im FBI-Honors-Praktikantenprogramm beschäftigt gewesen war, war dies nun eine willkommene Rückkehr zur Normalität.
Während der ersten paar Tage des Sommerprogramms musste er sich mit einem auswärtigen Mordfall befassen – der berüchtigte “Clown-Killer“ hatte zugeschlagen. Danach hatte er sich der profaneren Welt als Mentor gewidmet. Nur eine aus der Gruppe der Praktikanten – eine talentierte junge Frau namens Riley Sweeney, die einen zur Verzweiflung bringen konnte – hatte eine auffallende Brillanz gezeigt, ihm bei dem Fall zu helfen.
Dennoch – für seinen Geschmack war das Programm zu langsam verstrichen. Er war es nicht gewohnt, für eine dermaßen lange Zeit nicht im Feld zu arbeiten.
Als Jake Lehls Büro betrat, erhob sich der hoch aufgeschossene Mann von seinem Stuhl, um Crivaro zu grüßen. Erik Lehl war so groß, dass er in fast keinen der Räume passte, in dem er sich aufhielt. Andere Agenten sagten, dass es aussähe, als würde er auf Stelzen gehen. Für Jake sah es aus, als ob er aus Stelzen geschnitzt worden wäre – eine umständlich angeordnete Mischung aus verschiedenen Hölzern, die in ihren Bewegungen zu keinem Zeitpunkt perfekt koordiniert erschienen. Aber der Mann war ein Crack von einem Agenten gewesen und hatte seine Position in der Verhaltensanalyse-Einheit des FBI verdient.
»Richten Sie sich hier nicht gemütlich ein, Crivaro,« sagte Lehl. »Sie brechen gleich auf.«
Gehorsam blieb Jake stehen.
Lehl betrachtete den braunen Manila-Umschlag, den er in der Hand hielt und stieß einen grimmigen Seufzer aus. Jake hatte schon seit geraumer Zeit beobachtet, dass Lehl die Tendenz hatte, jeden einzelnen Fall äußerst ernst zu nehmen – man könnte sogar sagen persönlich. So als ob er sich bei jedweder Art von monströser Kriminalität persönlich beleidigt fühlte.
So war es auch nicht überraschend, dass Jake sich nicht daran erinnern konnte, Lehl jemals in froher Stimmung vorgefunden zu haben.
Denn schließlich …
Monster sind unser Geschäft.
Und Jake wusste, dass Lehl ihn nicht mit diesem besonderen Fall betrauen würde, wenn er nicht ungewöhnlich abscheulich wäre. Jake war so etwas wie ein Spezialist für Fälle, die der menschlichen Vorstellungskraft spotteten.
Lehl gab Jake den Manila-Umschlag und sagte, «Wir haben da eine wirklich hässliche Sachlage in West Virginia. Schauen Sie sich das mal an.«
Jake öffnete den Umschlag und entnahm ein schwarz-weißes Foto eines seltsamen Bündels, das aus Universalklebeband und Stacheldraht bestand. Das Bündel hing von einem Zaunpfahl. Jake brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass das Bündel ein Gesicht und Hände hatte – und dass es eigentlich ein menschliches Wesen war. Offensichtlich tot.
Jake atmete scharf ein.
Selbst für jemanden für ihn, war das ein ziemlich grausiger Anblick.
Lehl hob an zu erklären, »Das Foto wurde vor ungefähr einem Monat gemacht. Die Leiche einer Angestellten eines Schönheitssalons namens Alice Gibson. Sie wurde mit Stahldraht verschnürt und von einem Zaunpfosten an der Landstraße gehängt – ganz in der Nähe von Hyland, West Virginia.«
»Eine ziemlich hässliche Sache,« sagte Jake. »Was machen die örtlichen Polizisten damit?«
»Sie haben einen Verdächtigen in Gewahrsam,« sagte Lehl.
Jakes Augen wurden vor Überraschung groß.
Er fragte: »Warum ist es dann ein Fall für das FBI?«
Lehl sagte: »Es haben gerade einen Anruf vom Polizeichef in Dighton hereinbekommen, einer Stadt in der Nähe von Hyland. Eine weitere Leiche in genauso einem Bündel wurde heute Morgen gefunden. Das Knäuel hing an einem Zaunpfahl an einer Straße außerhalb des Ortes.«
Jake fing an zu verstehen. Wenn man sich zum Zeitpunkt des zweiten Mordes im Gefängnis befand, hatte man als Verdächtiger ein ziemlich gutes Alibi. Und jetzt sah es so aus, als liefe sich der Serienmörder gerade warm.
Lehl fuhr fort: »Ich habe Anordnung erteilt, dass der aktuelle Tatort noch nicht untersucht wird. Darum müssen Sie sofort da hin. Es würde sich hier um eine vierstündige Fahrt durch die Berge handeln, darum wartet ein Hubschrauber am Landeplatz auf Sie.«
Jake war gerade dabei, sich zum Verlassen des Büros umzudrehen, als Lehl noch hinzufügte …
»Soll ich Ihnen einen Partner zuteilen?«
Jake machte auf dem Absatz kehrt und schaute Lehl an. Diese Frage hatte er nicht erwartet.
»Ich brauche keinen Partner,« erwiderte Jake. Aber ich brauche ein Spurensicherungs-Team. Die Polizisten im ländlichen West Virginia werden nicht genau wissen, wie sie am Tatort vorgehen müssen.«
Lehl nickte und sagte, »Ich trommle Ihnen das Team sofort zusammen. Es wird gleich mit Ihnen zusammen abfliegen.«
Als Jake aus der Tür trat, sagte Lehl noch …
»Agent Crivaro, früher oder später werden Sie wieder einen Partner brauchen.«
Jake zuckte unbeholfen mit den Schultern und antworte: »Wenn Sie das sagen, Sir.«
Mit einem leichten Knurren sagte Lehl: »In der Tat, das glaube ich. Es wird langsam einmal Zeit, dass Sie lernen, mit anderen nett umzugehen.«
Jake sah ihn überrascht an. Es kam selten vor, dass der schweigsame Erik Lehl etwas sagte, was auch nur im mindesten höhnisch klang.
Ich glaube, er meint wirklich, was er sagt, stellte Jake fest.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ Jake das Büro und durchquerte das Gebäude. Straffen Schrittes dachte er darüber nach, was Lehl zu ihm gesagt hatte – in punkto neuem Partner. Es war ja bekannt, dass die Arbeit im Feld mit ihm, Jake Crivaro, kein Zuckerschlecken war. Aber er war tatsächlich der Auffassung, dass er niemanden hart rannahm, der es nicht verdient hätte.
Sein letzter Partner, Gus Bollinger, hatte es ganz sicher verdient gehabt. Er war gefeuert worden, weil er die Fingerabdrücke auf einem wichtigen Beweisstück im Fall mit dem sogenannten „Zündholzbriefchen-Killer“ verwischt hatte. In Folge war der Fall ungelöst geblieben – und es gab nur wenig, was Jake mehr hasste als ungelöste Fälle.
Im Fall des „Clown-Killers“ hatte Jake mit einem Agenten aus D.C. namens Mark McCune gearbeitet. McCune war keine solche Katastrophe wie Bollinger gewesen. Aber er hatte dämliche Fehler gemacht und sich für Jakes Geschmack zu viel auf sich eingebildet. Jake war froh gewesen, dass sie nur bei diesem einen Fall Partner gewesen waren und dass McCune in D.C. geblieben war.
Als er auf das Rollfeld trat, wo der Hubschrauber auf ihn wartete, dachte er an jemanden, mit dem er erst vor kurzem zusammengearbeitet hatte …
Riley Sweeney.
Er war schon von ihr beeindruckt gewesen, seit sie ihm noch als Psychologiestudentin geholfen hatte, einen Serienmörderfall an der Lanton Universität aufzuklären. Als sie ihren Abschluss dort gemacht hatte, hatte er ein paar Fäden gezogen, damit sie ins Sommer-Praktikantenprogramm des FBI aufgenommen würde. Dadurch hatte er sich den Zorn einiger seiner Kollegen zugezogen. Vielleicht gegen besseres Wissen hatte er sie angestellt, damit sie ihn im Fall des „Clown-Killers“ unterstützte.
Sie hatte in der Tat eine außerordentliche Arbeit abgeliefert. Sie hatte auch wirklich himmelschreiende Fehler gemacht.
Und sie war noch weit davon entfernt, Befehlen zu gehorchen. Aber er kannte nur eine Handvoll Agenten – darunter einige mit reichlich Erfahrung – die solch eine starke Intuition hatten.
Er war auch einer davon.
Als Jake sich unter den kreisenden Rotoren duckte und in den Hubschrauber kletterte, sah er, wie das vierköpfige Team der Spurensicherung über das Rollfeld gelaufen kam. Dann kletterten auch sie in die Maschine und der Helikopter hob ab.
Es erschien ihm töricht, jetzt an Riley Sweeney zu denken. Quantico war ein großer Stützpunkt, und selbst wenn sie an der FBI-Akademie war, würden sich ihre Wege wahrscheinlich nicht mehr kreuzen.
Jake öffnete den Umschlag, um sich den Polizeibericht durchzulesen.
* * *
Nachdem der Helikopter die Gebirgskette der Appalachen hinter sich gelassen hatte, flog er über sanft gewellte Hügel, wo Black Angus-Herden in die Landschaft hingetupft grasten. Als der Hubschrauber zum Landeanflug ansetzte, konnte Jake erkennen, wo die Einsatzfahrzeuge der Polizei einen Abschnitt der Schotterstraße abgeriegelt hatten, damit Schaulustige vom Ort des Verbrechens ferngehalten werden konnten.
Das Flugzeug setzte auf der Grasweide auf. Jake und das Spurensicherungs-Team kletterten heraus und bewegten sich hinüber zu einer kleinen Gruppe uniformierter Menschen und einiger Dienstwagen.
Die Polizisten und das Team standen zu beiden Seiten des Stacheldrahtzauns, der die Straße an der Ecke der Weide säumte. Jake konnte etwas erkennen, das wie ein in sich verheddertes Drahtbündel aussah und an einem Zaunpfosten hing.
Ein kleiner, stämmiger Mann, der Jake in Größe und Statur ähnelte, trat aus der Gruppe, um ihn zu grüßen.
»Ich heiße Graham Messenger und bin hier in Dighton der Chief,« sagte er und schüttelte Jake die Hand. »Wir hatten hier eine ganze Reihe von ziemlich scheußlichen Vorfällen, zumindest für diesen Landstrich. Ich zeige Ihnen was.«
Der Chief ging voran zu dem Zaunpfosten, von dem unübersehbar das seltsame Bündel herabhing. Es wurde von Universalklebeband und Stacheldraht zusammengehalten. Wieder konnte Jake ein Gesicht und Hände erkennen, was darauf hindeutete, dass das Bündel in der Tat ein menschliches Wesen beherbergte.
Messenger sagte: »Ich nehme an, dass Sie bereits über Alice Gibson Bescheid wissen, das vorherige Opfer drüben aus der Nähe von Hyland. Das hier sieht schon wieder wie so ein verdammtes Ding aus. Dieses Mal ist das Opfer Hope Nelson.«
Crivaro sagte: »Wurde sie als vermisst gemeldet, bevor ihre Leiche gefunden wurde?«
»Ich fürchte ja,« antwortete Messenger und zeigte auf einen Mann mittleren Alters mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck, der in der Nähe eines der Fahrzeuge stand. »Hope war mit Mason Nelson da drüben verheiratet – dem Bürgermeister hier. Sie arbeitete gestern Abend noch in ihrem Laden für landwirtschaftlichen Bedarf hier, der den beiden gehört. Sie kam aber nicht zur gewohnten Zeit zurück. Nelson rief mich mitten in der Nacht an und klang ziemlich alarmiert.«
Der Chief zuckte schuldbewusst mit den Schultern.
»Na ja, ich bin schon ein wenig Leute gewöhnt, die für ein Weilchen verschwinden und dann irgendwann wieder auftauchen. Ich habe Mason gesagt, dass ich mich heute drum kümmern würde, falls sie nicht wiederkommt. Ich hatte ja keine Ahnung …«
Messengers versagte die Stimme. Dann seufzte er, schüttelte den Kopf und setzte hinzu …
»Den Nelsons gehört so ziemlich viel hier in Dighton. Sie waren immer gute, anständige Leute. Die arme Hope hat das nicht verdient. Aber ich schätze mal, dass das niemand verdient.«
Ein weiterer Mann trat hinzu. Er hatte ein langes, schon ziemlich gealtertes Gesicht, weißes Haar und einen buschigen, altmodischen Schnurrbart. Chief Messenger stellte ihn als Hamish Cross vor, den obersten Gerichtsmediziner im Regierungsbezirk. Er kaute auf einem Halm herum und schien ziemlich entspannt zu sein. Was hier vorging, interessierte ihn anscheinend nur milde.
Er fragte Jake: »Schon mal so was gesehen?«
Jake antwortete nicht. Die Antwort lautete natürlich nein.
Jake bückte sich hinunter zu dem Bündel und untersuchte es aus der Nähe.
Er sagte zu Cross: »Ich nehme an, dass sie am ersten Mordfall gearbeitet haben.«
Cross nickte, bückte sich auch neben Jake und zwirbelte den Halm im Mund.
«Oh ja,« antwortete Cross. »Und dieser Mordfall ist fast identisch. Sie ist nicht hier gestorben, so viel ist sicher. Sie wurde entführt, erst mit Universalklebeband, dann mit Stacheldraht eingewickelt und ist langsam verblutet. Entweder das oder sie ist vorher erstickt. Wenn sie derart eng eingeschnürt wurde, wird sie kaum in der Lage gewesen sein, zu atmen. Das ist alles woanders passiert – es gibt es kein Anzeichen dafür, dass hier Blut geflossen ist.«
Jake konnte erkennen, dass Hopes Gesicht und Hände fast so weiß wie Papier waren. Sie glänzten in der späten Morgensonne wie Teile aus Porzellan. Die Frau sah für Jake einfach nicht nach einem echten Menschen aus, sondern eher wie eine Art grotesker Skulptur, die einem kranken Hirn entsprungen war.
Ein paar Fliegen kreisten um die Leiche. Sie landeten, wanderten darauf umher und flogen dann wieder weg. Dann begann das ganze Spiel wieder von vorne. Es sah so aus, als wüssten sie nicht, was sie mit diesem mysteriösen Objekt anfangen sollten.
Jake erhob sich und fragte Chief Messenger: »Wer hat die Leiche gefunden?«
Wie als Antwort darauf, hörte Jake die Stimme eines Mannes rufen …
»Was zum Teufel ist hier los? Wie lange dauert das denn noch?«
Jake drehte sich um und erblickte einen langhaarigen Mann mit einem zottligen Bart, der in ihre Richtung kam. Die Augen sprühten vor Zorn und seine Stimme klang schrill und zitterte.
Er rief: «Verflucht nochmal, wann nehmen Sie endlich dieses – dieses Ding ab? Das ist doch eine Riesen-Schererei – ich muss meine Rinder wegen all dem hier auf einer abgegrasten Weide lassen. Wie lange dauert das denn noch?«
Jake wandte sich Hamish Cross zu und sagte leise zu ihm …
«Sie können die Leiche jederzeit wegbringen.«
Cross nickte und erteilte seinem Team die nötigen Befehle. Dann führte er den wütenden Mann sachte weg und sprach mit ihm in leisem Tonfall. Offensichtlich beruhigte ihn das.
Chief Messenger erklärte Jake …
»Das ist Guy Dafoe, dem dieser Grund gehört. Er ist Biobauer – unser Hippie hier, könnte man wohl sagen. Er ist noch nicht lange da. Es hat sich herausgestellt, dass man in dieser Region gut Biorinder halten kann, die mit Gras gefüttert werden. Die Biolandwirtschaft hat die örtliche Wirtschaft wirklich angekurbelt.«
Messengers Handy klingelte und er nahm das Gespräch an. Er hörte einen Augenblick zu und sagte dann zu Jake …
»Dave Tallhamer ist dran, der Sheriff drüben in Hyland. Vielleicht haben Sie schon gehört, dass ein Tatverdächtiger im ersten Mordfall in Gewahrsam genommen wurde – sein Name ist Philip Cardin. Er ist der Ex-Mann des ersten Opfers und ein schlimmer Typ, der kein Alibi vorzuweisen hatte. Tallhamer dachte, dass er es totsicher gewesen wäre. Aber ich schätze, dass dieser neue Mordfall die Sachlage ändert, oder? Dave will wissen, ob er den Kerl gehen lassen soll.«
Jake dachte für einen Augenblick nach und sagte dann …
»Nicht bis ich die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen.«
Chief Messenger blinzelte neugierig und sagte: »Ähem, ist er nicht so ziemlich vom Haken, wenn eine andere Frau getötet wird, während er im Gefängnis sitzt?«
Jake unterdrückte einen Seufzer der Ungeduld.
Er wiederholte einfach: »Ich möchte mit ihm sprechen.«
Messenger nickte und vertiefte sich wieder in das Telefonat mit dem Sheriff.
Jake wollte sich jetzt im Moment nicht in Erklärungen ergehen. In Wahrheit wusste er gar nicht, dass gegenwärtig ein Verdächtiger in Untersuchungshaft saß. Nicht einmal, warum er verdächtigt wurde. Alles, was Jake wusste, war, dass Philip Cardin vielleicht einen Komplizen hatte, der den zweiten Mord begangen hatte. Vielleicht gab es auch etwas anderes …
Der Himmel weiß, was hier wohl los ist.
Zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung gab es immer tausend Fragen und keine Antworten.
Jake hoffte, dass sich das schnell ändern würde.
Während Messenger weiter telefonierte, ging Jake zum Ehemann des Opfers hinüber. Er lehnte an einem Streifenwagen und starrte vor sich hin.
Jake sagte: »Mein aufrichtiges Beileid, Mr. Nelson. Ich bin Special Agent Jake Crivaro und ich bin hier, um den Mörder ihrer Frau zur Rechenschaft zu ziehen.«
Nelson nickte fast unmerklich, als ob es ihm kaum bewusst war, dass jemand mit ihm sprach.
Jake sagte mit fester Stimme: »Mr. Nelson, habe Sie irgendeine Vermutung, wer das getan hat. Oder aus welchem Grund?«
Nelson sah in mit einem benommenen Gesichtsausdruck an.
»Was?« sagte er. Dann stieß er mehrmals hervor: »Nein, nein, nein.«
Jake wusste, dass es keinen Sinn machte, dem Mann noch mehr Fragen zu stellen, wenigstens nicht im Augenblick. Er befand sich ganz klar in einem Schockzustand. Das war kaum überraschend. Nicht genug damit, dass seine Frau tot war. Auch die Art, wie sie gestorben war, war besonders grotesk.
Jake bewegte sich zurück zum Tatort. Das Spurensicherungs-Team war dort schwer beschäftigt.
Er sah sich um und stellte fest, wie abgelegen dieser Ort zu sein schien. Wenigstens gab es keine Menge an Schaulustigen, die hier herumlungerte …
Bisher kein Anzeichen, dass sich die Presse schon einfände.
Aber genau in diesem Moment hörte er das Geräusch eines weiteren Helikopters. Er sah nach oben. Die Maschine eines TV-Senders setzte zum Landen auf der Weide an.
Jake tat einen schweren Seufzer und dachte …
Der Fall wird nicht leicht.
Kapitel sechs
Riley fühlte ein starkes, erwartungsvolles Kribbeln, als der Sprecher vor die ungefähr 200 Rekruten trat. Der Mann sah aus, als gehöre er in eine andere Zeit, mit seinem schmalen Reverskragen, der schmalen schwarzen Krawatte und dem Bürstenhaarschnitt. Er erinnerte Riley an Fotos von Astronauten aus den 1960er Jahren. Er sortierte einige wenige Karteikarten, dann ließ er den Blick über sein Publikum schweifen, während Riley auf seine lobenden Worte wartete, mit denen er alle willkommen hieß.
Der Direktor der Akademie, Lane Swanson, hob auch beinahe ihren Erwartungen entsprechend an …
»Mir ist bewusst, dass Sie alle hart gearbeitet haben, um sich auf diesen Tag vorzubereiten.«
Mit einem halben Lächeln fügte er hinzu …
»Jetzt darf ich Ihnen allerdings sagen, dass Sie nicht vorbereitet sind. Keiner von Ihnen ist vorbereitet.«
Ein vernehmbares Raunen ging durch das Auditorium und Swanson machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
Dann fuhr er fort: «Darum geht es in diesem zwanzigwöchigen Programm – Sie so gut wie möglich auf ein Leben bei der zentralen Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten, dem FBI, vorzubereiten. Und ein Teil davon besteht darin, die Grenzen Ihrer Vorbereitung kennenzulernen: Wie man mit unerwarteten Dingen umgeht, wie man genau in dem Moment schnell überlegt, wo man gefordert ist. Denken Sie immer daran – die FBI-Akademie wird mit gutem Grund als „West Point der Strafverfolgung“ bezeichnet. Wir haben hohe Standards. Nicht alle von Ihnen werden sie erreichen. Aber diejenigen von Ihnen, die sie erreichen, werden für die Aufgaben vorbereitet sein, die vor Ihnen liegen – so gut man nur hoffen kann.«
Riley hing wie gebannt an Swansons Lippen, als er über die Standards der FBI-Akademie referierte: die Sicherheitsförderung, den Kameradschaftsgeist, die Uniformität, die Eigenverantwortlichkeit und die Disziplin. Anschließend sprach er über den straffen Stundenplan – die Kurse in allen Fachbereichen, angefangen von Gesetz und Ethik bis zu Befragungstechnik und Spurensicherung.
Riley wurde bei jedem seiner Worte nervöser, als ihr klar wurde …
Ich bin keine Praktikantin mehr.
Das Sommerprogramm schien im Vergleich dazu, was sie jetzt erwartete, eine Teenie-Freizeit gewesen zu sein.
War sie dem hier überhaupt gewachsen?
War das mit der Akademie eine schlechte Idee gewesen?
Erst einmal fühlte sie sich wie ein Kind, als sie die anderen Rekruten auf ihren Stühlen betrachtete. Kaum jemand war in ihrem Alter. Sie hatte den Eindruck, als sie die Gesichter um sich herum betrachtete, dass fast alle schon nach einer gewissen Erfahrung aussahen – einige hatten wahrscheinlich sogar beträchtlich mehr Erfahrung als sie. Die meisten waren älter als 23 Jahre und einige sahen nach der maximalen Altersgrenze für neue Rekruten aus, die bei 37 Jahren lag.
Sie wusste, dass die Rekruten verschiedenster Herkunft waren und aus den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern stammten. Viele waren Polizeivollzugsbeamte gewesen, viele hatten im Militär gedient. Andere hatten als Lehrer, Rechtsanwälte, Wissenschaftler und Geschäftsleute gearbeitet und zeitweise noch viele andere Beschäftigungen innegehabt.
Aber eine gemeinsame Sache gab es – die absolute Verpflichtung, für den Rest des Lebens im Dienste der Strafverfolgung zu stehen.
Nur ein paar wenige kamen frisch vom Praktikantenprogramm. John Welch, der ein paar Reihen vor ihr saß, war einer von ihnen. Wie für Riley hatte es auch für ihn eine Ausnahmeregelung gegeben: Alle Rekruten mussten sonst mindestens drei Jahre durchgehend in der Strafverfolgung gearbeitet haben, um an der Akademie aufgenommen zu werden.
Swanson kam zum Ende seiner Rede …
“Ich freue mich darauf, die Hand aller derer zu schütteln, die hier in Quantico erfolgreich abschließen werden. Eines Tages werden Sie ihren Diensteid vor FBI-Direktor Bill Cormack persönlich ablegen. Ihnen dazu viel Glück.«
Und dann fügte er streng mit einem halben Schmunzeln hinzu: »Und jetzt – an die Arbeit!«
An Swansons Stelle auf dem Podium trat nun ein Ausbilder und rief nacheinander die Namen der Rekruten auf – „NAT“ wird ein Rekrut an der Akademie genannt, was „New Agent in Training“ bedeutet. Die jeweiligen NAT antworteten, wenn ihr Name aufgerufen wurde, und der Ausbilder fasste sie in kleineren Gruppen zusammen, die ihre Kurse gemeinsam besuchen sollten.
Als sie atemlos darauf wartete, dass ihr Name aufgerufen wurde, erinnerte sich Riley, wie nervtötend es gestern bei der Ankunft gewesen war. Nachdem sie eingecheckt hatte, war sie in einer Schlange nach der anderen gestanden: Formulare ausfüllen, eine Uniform kaufen, Zuteilung des Gemeinschaftszimmers.
Heute lief alles schon ganz anders.
Ein schmerzlicher Stich durchlief sie, als John Welchs Name fiel. Er wurde einer Gruppe zugeteilt, für die sie nicht ausgewählt worden war. Es hätte geholfen, dachte sie, einen Freund in der Nähe zu haben, auf den man sich verlassen konnte. Und mit dem man in den kommenden harten Wochen mitfühlen konnte. Andererseits dachte sie …
Das ist genauso gut.
Angesichts ihrer etwas verworrenen Gefühle für John, könnte seine Anwesenheit sie eventuell von den wichtigen Dingen ablenken.
Riley war dann schlussendlich erleichtert, als sie in der gleichen Gruppe wie Francine Dow landete, der Zimmergenossin, die ihr gestern zugeteilt worden war. Frankie, wie sie genannt werden wollte, war älter als Riley, vielleicht an die dreißig – eine Rothaarige mit guter Laune, deren rötliche Gesichtszüge darauf hindeuteten, dass sie bereits viel erlebt hatte.
Riley und Frankie hatten sich bisher kaum kennengelernt. Sie hatten gestern zu wenigen Dingen Zeit gehabt, außer ihre Sachen auszupacken und sich in ihrem kleinen Gemeinschaftszimmer einzurichten. Beim Frühstück war jede ihrer Wege gegangen.
Zu guter Letzt wurde Rileys NATs-Gruppe von Agent Marty Glick, dem Gruppenausbilder, im Flur zusammengerufen. Glick schien dem Aussehen nach in seinen Dreißigern zu sein. Er war groß gewachsen und hatte den muskulösen Bau eines American Football-Spielers. Er setzte ein ernstes, spaßbefreites Gesicht auf.
Er sagte zur Gruppe …
»Morgen steht Ihnen ein wichtiger Tag bevor. Aber ehe wir richtig anfangen, will ich Ihnen noch etwas zeigen.«
Glick führte sie in die Haupteingangshalle, einen riesigen Raum, in dessen marmornen Boden das FBI-Emblem eingelassen war. An einer Wand befand sich eine kolossale bronzene Platte, wovon eine Ecke mit einem schwarzen Band geziert wurde. Riley war bei ihrer Ankunft hier durchgelaufen und wusste, dass man sie „Hall of Honor“, die „Ehrenhalle“ nannte.
Dies hier war ein ehrwürdiger Ort, wo FBI-Agenten verewigt waren, die für ihr Land gestorben waren.
Glick führte sie zu einer Wand, an der zwei schwarze Platten mit den Portraits und Namen der Getöteten montiert waren. Zwischen den beiden Platten hing eine gerahmte Gedenktafel, auf der zu lesen stand …
Absolventen der Nationalen Akademie, die im Einsatz durch Feindeinwirkung gefallen sind.
.
Einigen NATs stockte der Atem, als sie die Gedenktafeln näher betrachteten. Glick schwieg für eine Weile, um die emotionale Wirkung sacken zu lassen.
Schließlich sagt er, fast im Flüsterton …
»Lasst sie nicht im Stich.«
Als er die Gruppe der NATs zum Beginn ihrer Tagesveranstaltungen wegführte, warf Riley über die Schulter noch einmal einen Blick zurück auf die Portraits an der Wand. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen …
Wird mein Foto auch eines Tages dort hängen?
Natürlich konnte man das nicht wissen. Alles, was sie genau wusste, war, dass die kommenden Tage sie vor Herausforderungen stellen sollte, denen sie sich zuvor noch nie hatte stellen müssen. Es verschlug ihr regelrecht den Atem, so machte sich in ihr ein neues Verantwortungsgefühl gegenüber jenen Agenten breit, die für ihr Land gestorben waren.
Ich kann sie nicht enttäuschen, dachte sie.
Kapitel sieben
Jake steuerte das Vehikel, das er sich eilends ausgeliehen hatte, durch ein Netzwerk von Schotterstraßen, die von Dighton nach Hyland führten. Chief Messenger hatte ihm den Wagen ausgeliehen. Auf diese Weise konnte Jake aufbrechen, ehe der Helikopter des TV-Senders landete.
Er hatte keine Ahnung, was ihn in Hyland erwarten würde, aber er war dankbar, der Invasion entkommen zu sein. Er hasste es von Reportern belagert zu werden, die ihn mit Fragen bestürmten, auf die er keine Antwort wusste. Es gab nicht viel, an was die Medien mehr Gefallen fanden, als an spektakulären Mordfällen in abgelegenen, ländlichen Gebieten. Die Tatsache, dass das Opfer die Frau des Bürgermeisters war, machte die Story für sie sicherlich noch bestechender.
Er fuhr mit offenem Fenster und genoss die frische Landluft. Messenger hatte ihm aufgezeichnet, wie er fahren sollte, und Jake hatte Spaß bei der gemächlichen Landpartie. Der Mann, den er befragen wollte, würde sich nicht von der Stelle bewegen, ehe er da war.
Selbstverständlich hatte der Verdächtigte im Gefängnis von Hyland mit keinem der Mordfälle etwas zu tun. Man hatte ihn gerade ins Gefängnis gesteckt, als das zweite Opfer starb.
Nicht als ob das seine Unschuld beweisen würde, dachte Jake.
Es gab immer die Möglichkeit, dass ein Team von zwei oder mehr Mördern am Werk war. Hope Nelson könnte von jemandem geschnappt worden sein, der den Mord an Alice Gibson nachahmen wollte.
Als Jake Hyland erreichte, bemerkte er als erstes, wie klein und verschlafen diese Kleinstadt aussah – viel kleiner als Dighton, mit einer Einwohnerschaft von ungefähr 1000 Leuten. Das Ortschild, an dem er gerade vorbeigefahren war, gab an, dass nur ein paar hundert Menschen hier lebten.
Kaum groß genug, um eingegliedert zu werden, dachte Jake.
Die Polizeiwache war genauso wie alle Fassaden in der kurzen Geschäftsmeile. Als er längs der Straße parkte, erblickte Jake einen fettleibigen Mann in Uniform, der sich an den Türpfosten lehnte. Er sah aus, als hätte er nicht anderes zu tun.
Jake stieg aus dem Auto. Als er auf die Polizeiwache zuhielt, sah er, dass der ausladende Polizist auf jemanden direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite starrte. Dieser Mann trug einen weißen Arztkittel und stand mit verschränkten Armen da. Jake hatte den befremdlichen Eindruck, dass die beiden schon eine ganze Weile dagestanden und sich ohne Worte betrachtet hatten.
Worum geht es denn da? fragte er sich.
Er kam auf den Uniformierten zu, der im Türrahmen stand und zeigt ihm seinen Dienstausweis. Der Mann stellte sich als Sheriff David Tallhammer vor. Er kaute auf einem Tabakbündel herum.
Er sagte mit gelangweilter Stimme zu Jake: »Kommen Sie rein, dann kann ich Ihnen unseren Hausgast vorstellen – Phil Cardin heißt er.«
Tallhamer ging voraus und Jake schaute kurz hinter sich. Der Mann im weißen Kittel rührte sich nicht vom Fleck.
In der Polizeiwache stellte Tallhamer Jake einen Wachtmeister vor, der die Füße auf den Schreibtisch gelegt hatte, während er Zeitung las. Dieser nickte Jake zu und las weiter.
Die kleine Wache strömte eine seltsam gelangweilte Atmosphäre aus. Wenn es Jake nicht bereits gewusst hätte, wäre er nie darauf gekommen, dass diese zwei abgehalfterten Polizisten es mit einem grässlichen Mordfall zu tun hatten.
Tallhamer führte Jack durch eine Tür an der hinteren Seite des Büros, das zum Gefängnis führte. Dieses bestand aus nur zwei Zellen, die sich über einen schmalen Flur gegenüberlagen. Beide Zellen waren momentan besetzt.
In der einen Zelle lag ein Mann in einem eher verschlissenen Anzug laut schnarchend auf seiner Pritsche. In der gegenüberliegenden Zelle saß ein missmutig dreinblickender Mann in Jeans und T-Shirt auf seiner Schlafkoje.
Tallhamer holte seinen Schlüsselbund heraus, öffnete die Zelle, in der der Gefangene saß und sagte …
»Du hast Besuch, Phil. Von einem echten FBI-Agenten.«
Jake trat in die Zelle, während Tallhamer genau nur so weit draußen stand, um die Zellentür aufzuhalten.
Phil Cardin blinzelte angestrengt und sagte zu Jake: »Aha, FBI? Vielleicht können Sie ja diesem Witz an Polizisten hier beibringen, wie er seine Arbeit zu erledigen hat. Ich habe niemanden umgebracht, geschweige denn meine Ex-Frau. Wenn ich es getan hätte, wäre ich der allererste, der damit angeben würde. Deshalb lassen Sie mich hier raus.«
Jake fragte sich …
Hat ihm irgendjemand vom anderen Mord erzählt?
Jake hatte das Gefühl, dass Cardin nichts davon wusste. Er dachte, das Beste wäre, es dabei zu belassen, zumindest für jetzt.
Jake sagte zu ihm: »Herr Cardin, ich habe ein paar Fragen an Sie. Möchten Sie, dass ein Anwalt dabei ist?«
Cardin kicherte und zeigte auf den schlafenden Mann in der gegenüberliegenden Zelle.
»Hey, Ozzie. Werd mal schnell wieder nüchtern. Ich brauche hier einen Rechtsbeistand. Stell mal sicher, dass meine Rechte nicht verletzt werden. Obwohl ich denke, dass der Zug bereits abgefahren ist, du besoffener, unfähiger Mistkerl.«
Der Mann im zerknitterten Anzug setzte sich auf und rieb sich die Augen.
»Warum zum Teufel schreist du hier herum?« brummte er. »Siehst du nicht, dass ich versuche, eine Mütze voll Schlaf zu kriegen? Lieber Heiland, was hab ich für ein gottverdammtes Kopfweh.«
Jake klappte der Kiefer herunter. Der feiste Sheriff schüttelte sich vor Lachen wegen dieser offensichtlichen Überraschung.
Tallhamer sagte: »Agent Crivaro, ich möchte Ihnen Oswald Hines vorstellen, den einzigen Rechtsanwalt des Dorfes. Er wird ab und zu für öffentliche Verteidigungsangelegenheiten herangezogen. Ziemlich praktisch, dass er vor kurzem für ungehöriges Benehmen unter Alkoholeinfluss eingebuchtet wurde, darum haben wir ihn hier gleich zur Verfügung. Nicht, dass das ein ungewöhnliches Vorkommnis wäre.«
Oswald Hines hustete und ächzte.
»Ja, ich denke mal, das ist die Wahrheit,« sagte er. »Dies hier ist meine Art zweites Zuhause – oder mehr wie mein zweites Büro, könnte man sagen. In Zeiten wie diesen kommt der Ort richtig gelegen. Ich würde sehr ungern irgendwo anders hingehen müssen, so wie ich mich gerade fühle.«
Hines tat einen langen, bedächtigen Atemzug und starrte die anderen verschlafen an.
Dann sagte er zu Jake: »Hör mal zu, Agent-schlag-mich-tot. Als der Verteidigungsanwalt dieses Mannes muss ich darauf bestehen, dass du ihn in Ruhe lässt. Ihm wurden diese Woche schon viel zu viele dämliche Fragen gestellt. Eigentlich wird er grundlos hier festgehalten.«
Der Rechtsanwalt gähnte und fügte hinzu: »Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass er schon weg wäre. Er wäre besser schon draußen gewesen, ehe ich wieder aufwache.«
Der Anwalt war im Begriff, sich wieder hinzulegen, als der Sheriff sagte …
»Wachbleiben, Ozzie. Du hast was zu tun. Ich besorge dir eine Tasse Kaffee. Soll ich dich aus deiner Zelle lassen, damit du deinem Klienten näher sein kannst?«
»Nö, mir geht es gut hier,« sagte Ozzie. »Nur beeil dich mit dem Kaffee. Du weißt ja, wie ich ihn haben will.«
Sheriff Tallhamer sagte lachend: »Und wie wäre das?«
»In irgendeiner Art von Tasse.« knurrte Ozzie. »Gehen. Du. Jetzt.«
Tallhamer ging zurück ins Büro. Jake stand da und starrte für einen Augenblick auf den Gefangenen hinunter.
Schließlich sagte er: »Herr Cardin, soviel ich weiß, haben Sie kein Alibi für die Zeit, als Ihre Ex-Frau ermordet wurde.«
Cardin zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich habe keine Ahnung, wie man darauf kommen könnte. Ich war zu Hause. Ich habe mir Tiefkühlkost warmgemacht, den ganzen Abend ferngesehen und dann für den Rest der Nacht durchgeschlafen. Ich war nicht mal ansatzweise in der Nähe, wo es passiert ist – wo immer das auch war.«
»Kann das jemand bestätigen?« sagte Jake.
Cardin grinste und sagte: »Nein, aber niemand kann irgendetwas anderes bestätigen, oder?«
Jake fragte sich, als er Cardins abfällige Bemerkung hörte …
Ist er schuldig und will mich für dumm verkaufen?
Oder ist ihm der Ernst der Lage nicht bewusst?
Jake fragte: »Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Ex-Frau zum Zeitpunkt des Mordes?«
Der Anwalt rief durchdringend aus …
»Phil, antworte nicht auf diese Frage.«
Cardin schaute zur gegenüberliegenden Zelle hinüber und sagte: »Ach, halt die Klappe, Ozzie. Ich werde ihm nichts anderes sagen, als was ich dem Sheriff nicht schon hundertmal gesagt habe. Es macht sowieso keinen Unterschied.«
Dann sah Cardin Jake an und sagte in einem sarkastischen Ton …
»Es stand prachtvoll zwischen mir und Alice. Unsere Scheidung war völlig einvernehmlich. Ich hätte ihr nie ein Haar gekrümmt auf ihrem süßen Köpfchen.«
Der Sheriff war zurück und reichte dem Anwalt eine Tasse Kaffee.
»Einvernehmlich, so eine Scheiße,« sagte der Sheriff zu Cardin. »Am Tag, an dem sie umgebracht wurde, bist du wie ein brüllendes Rindvieh in den Schönheitssalon gerannt, in dem sie arbeitete. Du hast direkt vor der Kundschaft herumgeschrien, dass sie dein Leben ruiniert hat, dass du sie abgrundtief hasst und dass du willst, dass sie tot ist. Darum sitzt du ja hier.«
Jake steckte die Hände in die Taschen und sagte: »Würden Sie die Güte haben und mir sagen, worum es gerade geht?“
Cardins Lippen verzerrten sich mit unverhohlener Wut.
»Das war die Wahrheit und das ist auch schon alles – dass sie mein Leben ruiniert hat, meine ich. Mein Glück hat mich total im Stich gelassen, seit die Schlampe mich rausgeworfen und diesen bescheuerten Arzt geheiratet hat. Genau an dem Tag, als ich als Koch in Mick’s Diner gefeuert wurde.«
»Und das war dann ihre Schuld?« sagte Jake.
Cardin starrte Jake direkt ins Auge und sagte durch zusammengebissene Zähne …
»Alles war ihre Schuld.«
Jake erschauderte bei dem Klang von Cardins hasserfüllter Stimme.
Er macht andere gern zum Sündenbock, dachte er.
Jake hatte schon mehr als genug Mörder vor sich gehabt, die keinerlei Verantwortung dafür übernommen hatten, was in ihrem Leben schiefgelaufen war. Jake wusste, dass Cardins bodenloser Groll kaum ein Beweis für seine Schuld war. Aber er konnte hundertprozentig verstehen, warum Cardin überhaupt eingesperrt worden war.
Trotzdem wusste Jake, dass es auf einem anderen Blatt stand, dass er hier in Untersuchungshaft festgehalten wurde. Jetzt wo es einen weiteren Mord gab. Wie Chief Messenger Jake in Dighton erzählte hatte, gab es keinen konkreten, stichhaltigen Beweis, dass es eine Verbindung zwischen Cardin und dem Verbrechen gab. Der einzige Beweis war nur das chronische Verhaltensmuster, das Cardin an den Tag legte: Er bedrohte Leute – wie bei seinem Ausbruch neulich im Schönheitssalon, wo Alice gearbeitet hatte. Das waren alles nur Indizien.
Wenn er nicht noch etwas sagt, was ihn jetzt und hier belastet.
Jake sagte zu Cardin: »Dem Anschein nach geben Sie nicht unbedingt den trauernden Exmann ab.«
Cardin grunzte und sagte: »Vielleicht wäre ich das ja, wenn Alice mir nicht so übel mitgespielt hätte. Während unserer gesamten Ehe hat sie mir immer wieder gesagt, was ich für ein Loser bin – als ob diese hässliche Kröte, mit der sie was anfing, eine Steigerung gewesen wäre. Also ich war kein Loser, bevor sie die Scheidung eingereicht hat. Erst als ich auf mich selbst gestellt war, fingen die Dinge an, langsam schiefzulaufen. Das ist nicht fair …«
Jake hörte zu, während Cardin weiterhin über seine Ex-Frau klagte. Seine Verbitterung war fühlbar – auch sein gebrochenes Herz. Jake vermutete, dass Cardin nie aufgehört hatte, Alice zu lieben, oder wenigstens, sie zu brauchen. Ein Teil von ihm hatte immer die vergebliche Hoffnung gehegt, dass sie wieder zusammenkommen würden.
Aber seine Liebe für Alice war offensichtlich kranker, verdrehter und obsessiver Natur gewesen – also nicht wirklich Liebe in einem gesunden Sinne. Jake hatte genug Mörder gesehen, deren Triebfeder „Liebe“ gewesen war.
Cardin legte eine kurze Pause in seiner Schimpftirade ein, dann sagte er …
»Sagen Sie mir – stimmt das, dass sie in Stacheldraht eingewickelt war, als Sie sie fanden?«
Er schüttelte den Kopf und mit einem Lächeln fügte er hinzu …
»Mannomann, das ist – das ist einfallsreich.«
Jake durchfuhr ein Ruck bei diesen Worten.
Was genau meinte Cardin damit?
Bewunderte er das Werk einer anderen Person?
Oder verspürte er eine hinterhältige Schadenfreude, wenn er an seinen eigenen Einfallsreichtum dachte?
Jake war der Ansicht, dass der Zeitpunkt für den Versuch gekommen war, ihn über den weiteren Mord auszuquetschen. Falls Cardin einen Komplizen hatte, der Hope Nelson getötet hatte, konnte Jake ihn vielleicht dazu bringen, es zu gestehen. Aber er wusste, dass er vorsichtiger vorgehen musste.
Er sagte: »Herr Cardin, kannten Sie vielleicht eine Frau namens Hope Nelson drüben in Dighton?«
Cardin kratzte sich am Kopf und sagte …
»Nelson … der Name ist mir irgendwie bekannt. Ist das nicht die Frau des Bürgermeisters oder so?«
Sheriff Tallhamer lehnte sich von außen gegen die Gitterstäbe der Zelle und knurrte …
»Auf jeden Fall ist sie tot.«
Jake kämpfte gegen ein enttäuschtes Stöhnen, das in ihm aufstieg. Er hatte nicht vorgehabt, Cardin die Wahrheit auf eine so unelegante Weise zu servieren. Er hatte gehofft, sich damit genügend Zeit lassen zu können, um herauszufinden, ob Cardin bereits wusste, was Hope Nelson zugestoßen war.
Der Rechtsanwalt in der anderen Zelle sprang auf die Füße.
»Tot?« kläffte er. »Wovon zum Teufel redest du?«
Tallhamer spuckte etwas Tabak auf den Betonboden und sagte: »Sie wurde gestern Nacht umgebracht – auf genau dieselbe Weise, auf die Alice getötet wurde. Sie baumelte von einem Zaunpfosten – in Stacheldraht eingewickelt.«
Plötzlich schien Ozzie vollkommen nüchtern zu sein, als er Jake anschnauzte: »Und warum in aller Welt halten Sie dann meinen Klienten fest? Erzählen Sie mir bloß nicht, dass er letzte Nacht eine andere Frau ermordet hat, während er hier drinnen eingesperrt war.«
Jakes Laune sank. Seine Taktik war ihm von Talhammer verdorben worden und er wusste, dass alle weiteren Fragen wahrscheinlich sinnlos waren
Dennoch fragte er Cardin abermals: «Kannten Sie Hope Nelson?«
»Habe ich Ihnen nicht gerade gesagt, dass ich Sie nicht kannte?» sagte Cardin mit einem Hauch von Überraschung.
Aber Jake konnte nicht sagten, ob seine Überraschung echt war oder ob er sie nur vorspielte.
Ozzie umklammerte die Stäbe seiner Zelle und rief: »Sie lassen meinen Klienten jetzt sofort laufen, verdammt nochmal, oder Sie werden einen Prozess am Hals haben, der sich gewaschen hat.«
Jake unterdrückte ein Seufzen.
Ozzie hatte natürlich recht, aber …
Er hatte sich einen tollen Zeitpunkt ausgesucht, um plötzlich sein Fachwissen an den Tag zu legen.
Jake wandte sich an Tallhamer und sagte: »Lassen Sie Cardin gehen. Aber behalten Sie ihn gut im Auge.«
Tallhamer rief nach dem Wachtmeister, damit er Cardins Habseligkeiten brachte. Als der Sheriff die Zellentür öffnete, um Cardin herauszulassen, drehte er sich in Ozzies Richtung und sagte …
»Willst du auch gehen?«
Ozzie gähnte und legte sich wieder auf seine Pritsche.
»Nö, ich habe gerade ein ordentliches Pensum an Arbeit hingelegt. Das reicht für einen Tag. Ich würde ganz gerne weiterschlafen – solange du die Zelle nicht für jemanden anders brauchst.«
Tallhamer grinste und sagte: »Gerne, nur zu.«
Als Jake mit Tallhamer und Cardin aus der Polizeiwache kam, bemerkte er, dass der Mann im weißen Kittel immer noch auf der anderen Straßenseite stand. An genau derselben Stelle wie zuvor.
Plötzlich setzte sich der Mann in Bewegung und marschierte über die Straße auf sie zu.
Tallhamer knurrte Jake leise ins Ohr …
»Jetzt gibt es Ärger.«
Kapitel acht
Jake musterte den Mann prüfend, der auf sie zulief. Sie waren gerade aus der Polizeiwache herausgekommen. Er sah am Gesicht des Mannes und wie er sich gab, dass er wütend war. Aber dieser Zorn schien nicht ihm zu gelten. Und er war sich bewusst, dass Tallhamer sich nicht darauf gefasst machte, zu handeln.
Währenddessen hatte sich Cardin umgedreht und eilte schnell auf dem Bürgersteig weg.
Der wütende Mann stürmte auf Tallhamer zu. Er fuchtelte mit einem Arm in Richtung des davoneilenden Cardin und rief …
»Ich verlange von Ihnen, dass Sie diesen Bastard wieder in Gewahrsam nehmen!«
Sheriff Tallhamer, der vom Zorn dieses Mannes scheinbar unberührt war, stellte Jake mit Ruhe Earl Gibson vor, den einzigen Arzt des Dorfes und – Alice Gibsons Ehemann.
Jake wollte seine Hand schütteln und eine Beileidsbekundung abgeben, aber die Arme des Doktors kreisten immer noch umher, als er sich Tallhamer gegenüber ausließ. Er bemerkte, dass Dr. Gibson ein bemerkenswert unscheinbarer Mann war mit einem schwer pockenvernarbten Gesicht, dem die Zornesröte nichts Ansehnliches hinzufügen konnte. Er erinnerte sich daran, wie Cardin ihn als »diese Kröte, mit der sie etwas anfing,« bezeichnet hatte.
Cardin war im Vergleich zu ihm geradezu richtig gutaussehend.
Jake nahm an, dass Earl Gibson trotz seines Aussehens über Tugenden verfügt haben musste, die die tote Frau angezogen hatten. Schließlich war Gibson Arzt und Alices Exmann war nichts weiter als ein gescheiterter Koch …
Wahrscheinlich eine ziemlich einfache Wahl in einem Dorf mit wenig Optionen.
Gibsons Ärger nahm nur noch weiter zu, als er herausfand, wer Jake war.
»Das FBI! Was geht denn das hier das FBI an? Sie hatten doch den Mörder meiner Frau schon erwischt. Sie hatten ihn weggesperrt. Jedes Geschworenengericht auf der ganzen Welt würde ihn für schuldig befinden. Und jetzt haben Sie ihn einfach gehen lassen!«
Sheriff Tallhamer scharrte mit den Füssen und sagte in einem geduldigen, fast herablassenden Tonfall …
»Pass auf, Earl, wir haben darüber doch erst vor kurzem gesprochen, oder nicht?«
Dr. Gibson antwortete: »Ja, haben wir. Und darum bin ich auch hiergeblieben und habe gewartet. Ich musste mich selbst davon überzeugen. Ich wollte es verhindern.«
Sheriff Tallhamer shuffled his feet and spoke in a patient, almost condescending tone …
»Wir müssen ihn gehenlassen und das weißt du auch,« sagte Tallhamer. »Eine andere Frau wurde gestern Nacht drüben in Dighton ermordet, genauso wie Alice. Ich kann mich für Phil Cardins Aufenthaltsort letzte Nacht verbürgen und er war ganz sicherlich nicht in der Nähe von Dighton. Er hat die Frau nicht umgebracht und jetzt haben wir keinen Grund anzunehmen, dass er Alice umgebracht hat.«
»Keinen Grund!« sagte Gibson und geiferte vor Zorn. »Genau an jenem Tag hat er ihr nach dem Leben getrachtet. Und bitte beleidige mich nicht mit diesem Unsinn über das Opfer in Dighton und dass Phil sie nicht umgebracht haben könnte. Wir wissen beide, dass er ein brauchbarer Verdächtiger ist, was den anderen Mord angeht.«
Jakes Interesse war plötzlich geweckt.
»Ein brauchbarer Verdächtiger?« fragte er.
Gibson sagte voller Spott zu Sheriff Tallhamer: »Also haben Sie’s ihm nicht erzählt, oder?«
»Mir was erzählt?« fragte Jake.
»Das über Phil Cardins Bruder Harvey,« sagte Gibson zu Jake. »Er pflichtet Phil in allen Dingen bei. Er hat Alice auch bedroht. Er erwischte sie am Telefon und sagte ihr, dass er und Phil sich an ihr rächen würden. Er hat sie an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, angerufen. Und wo immer er gestern auch gewesen ist, auf jeden Fall nicht in irgendeiner Gefängniszelle. Er hat diese Frau in Dighton ermordet. Ich würde mein Leben darauf verwetten.«
Jake war jetzt ehrlich überrascht.
Er fragte Gibson: »Warum meinen Sie würde er jemanden in einer anderen Stadt töten?«
Gibson antwortete: »Was sein Motiv ist, meinen Sie? Vielleicht hatte er etwas Persönliches gegen diese Frau. Er reist viel im Bundesstaat herum. Vielleicht hat er ja was mit ihr angefangen und ist dann in die Fußstapfen seines Bruders getreten. Aber ich denke, er hat es höchstwahrscheinlich getan, um seinen Bruder zu schützen – damit die Leute denken, dass Phil Alice nicht getötet hat.«
Tallhamer seufzte und sagte: »Earl, darüber haben wir doch auch vor kurzem gesprochen, oder nicht? Wir kennen doch beide Harvey Cardin schon unser ganzes Leben lang. Er durchquert die ganze Gegend, weil er ein herumreisender Klempner ist. Er reißt ab und zu die Klappe auf, aber er ist nicht wie sein Bruder. Er tut keiner Fliege etwas zuleide. Ganz zu schweigen davon, dass er irgendjemand auf so scheußliche Weise umbringen könnte.«
Jake schweifte gedanklich kurz ab, um zu verarbeiten, was er gehört hatte.
Er wünschte sich, dass Tallhamer ihm bereits ganz zu Anfang von Harvey Cardin erzählt hatte.
Tja, Polizisten in der Kleinstadt, dachte er. Einige von ihnen waren sich so sicher, dass sie über jeden im Distrikt alles wussten, dass sie leicht übersahen, was wichtig war.
Jake sagte zu Sheriff Tallhamer: »Ich möchte mit Harvey Cardin sprechen.«
Der Sheriff hob die Schultern, als ob er das als Zeitvergeudung ansehen würde.
Er sagte: »Also, wenn Sie das wünschen. Harvey lebt nur ein paar Blocks weiter von hier. Ich nehme sie dorthin mit.«
Als Jake sich mit dem Sheriff in Bewegung setzte, sah er, dass Gibson ihnen folgte. Das Letzte, was Jake gerade brauchte, war ein trauernder und erzürnter Witwer, der sich in das Interview mit einem möglichen Verdächtigen einschaltete.
Er sagte so sachte er konnte: «Dr. Gibson, der Sheriff und ich müssen das alleine machen.«
Als Gibson den Mund öffnete, um zu widersprechen, fügte Jake hinzu …
»Ich möchte Sie in Kürze interviewen. Wo kann ich Sie finden?«
Gibson blieb für einen Augenblick still.
»Ich bin in meiner Arztpraxis,» sagte Gibson. »Der Sheriff kann Ihnen sagen, wo sie ist.«
Gibson drehte sich um und stürmte ärgerlich von dannen.
Jake und Tallhamer liefen eine kurze Strecke zu einem kleinen, weißen Haus, wo Harvey Cardin lebte. Es war ein baufälliges Häuschen mit einem verwilderten Rasen.
Tallhamer klopfte an der Haustür. Als niemand antwortete, klopfte er abermals, aber immer noch keine Antwort.
Tallhamer sagte: »Er ist wahrscheinlich auf Reisen, vielleicht arbeitet er in irgendeinem anderen Dorf. Wir erwischen ihn das nächste Mal.«
Jake wollte auf dieses „nächste Mal» nicht warten. Er versuchte, durch eine der Glasscheiben in der Haustür zu spähen. Er konnte einige kahle, einfache Möbelstücke erkennen. Ansonsten gab es da im Inneren wenig – die Einrichtung vermittelte ganz sicher keinen persönlichen Touch. Das Haus sah so aus, als ob es möbliert vermietet worden wäre, es gab jedoch keine Anzeichen dafür, dass jemand dort wohnte.
Jake nahm an, dass Harvey Cardin gerade nicht im Dorf war, in Ordnung …
Aber würde er je zurückkommen?
Seine Überlegungen wurden jäh von einer Männerstimme von nebenan unterbrochen …
»Sheriff, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Jack drehte sich um und sah einen Mann im Garten stehen.
Tallhamer antwortete ihm: »Dieser Typ vom FBI und ich, wir suchen Harvey Cardin.«
Der Mann schüttelte den Kopf und sagte: »Da haben Sie kein Glück, glaube ich. Ich habe gesehen, wie er letzte Woche seinen Laster beladen hat – gerade nachdem sein Bruder wegen dem Mord an Alice Gibson verhaftet worden war. Es sah so aus, als ob er alle seine Habseligkeiten mitgenommen hat. Nicht dass es da so viel zum Mitnehmen gab. Ich habe ihn gefragt, wo er hinwollte und er sagte: „Überall hin, nur nicht nach Hyland. Mir reicht‘s mit diesem gottverdammten Ort.»
Jake durchfuhr ein Ruck, der ihn aufrüttelte.
Dieser mögliche Verdächtige war bereits verschwunden.
»Kommen Sie,« sagte Jake zu Tallhamer. »Lassen Sie uns mit ein paar Leuten sprechen.«
* * *
Jake und Sheriff Tallhamer verbrachten den Rest des Tages damit, fruchtlose Interviews durchzuführen. Sie fingen in der Nachbarschaft an, wo Harvey Cardin gelebt hatte. Alles, was Harveys andere Nachbaren wussten, war, dass sie ihn nicht mehr gesehen hatten, seit er vor zwei Wochen weggefahren war.
Bei Alices Freunden und Bekanntschaften hatten sie auch nicht mehr Glück. Alices Kolleginnen im Schönheitssalon waren sich einig, dass Phil Cardin am Tag vor Alice Ermordung ihr hier eine furchtbare, erschreckende Szene gemacht hatte.
Als Jake und Tallhamer einen Halt bei Mick’s Diner einlegten, sagte der Besitzer, dass Phil Cardin seinen Job als Koch aus einer Vielzahl von Gründen verloren hatte – er war nicht zur Arbeit erschienen oder manchmal betrunken und war in Faustkämpfe mit anderen Angestellten verwickelt gewesen.
Keiner von ihnen wusste irgendetwas darüber, wo sich Phils Bruder Harvey vermutlich aufhalten konnte.
Schlussendlich statteten Jake und der Sheriff Earl Gibson in seiner Arztpraxis einen Besuch ab. Der Doktor schäumte noch vor Wut über Phil Cardins Entlassung. Er regte sich zusätzlich auf, als er hörte, dass Harvey verschwunden war. Jake gelang es, ihn soweit zu beruhigen, um ihm einige Fragen zu stellen. Aber Gibson war nicht dazu in der Lage, etwas Licht ins Dunkle zu bringen, wer denn außerdem noch geplant haben könnte, seine Frau zu töten.
Ihre Befragungen machten das Rätsel nur noch größer – zumindest was Jake anging. Er suchte nach einem Anhaltspunkt, dass die zwei Cardin-Brüder die zwei Morde abwechselnd verübt haben können. Oder dass sogar der als vermisst geltende Harvey Cardin beide Morde begangen hatte …
Aber wenn nicht?
Jake hatte gerade noch keine alternativen Szenarios parat. Er hatte kein Bauchgefühl gehabt, dass irgendjemand in Hyland auch nur einen der Morde verübt hatte. Alle, mit denen sie an diesem Tag sprachen, schienen Alice gern gemocht zu haben und niemand in Hyland hatte anscheinend Hope Nelson gekannt, außer dem Namen nach. Alice Gibson hatte sie offenbar auch nicht gekannt. Die zwei Frauen kamen aus derselben Region dieses Bundesstaats, aber hatten ihr Leben in verschiedenen Kleinstädten und unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen verbracht.
Als sie nach einem fruchtlosen Tag wieder bei der Polizeiwache ankamen, sagte Jake dem Wachtmeister in Tallhamers Büro, dass er Phil Cardin gut im Auge haben solle, besonders um sicherzustellen, dass er nicht versuchte, die Stadt zu verlassen.
»Einmal halte ich noch an,« sagte er zu Tallhamer, »und dann gebe ich für heute auf.
Der Sheriff fuhr Jake hinaus zum ersten Tatort.
Der Abend dämmerte, bis sie dort ankamen. Der Zaunpfosten, an dem die baumelnde Leiche von Alice Gibson gefunden worden war, war mit einem Kreuz markiert, das der Wachtmeister von Sheriff Tallhamer auf den Pfosten gemalt hatte. Der Zaun grenzte an eine Weide mit sanften Hügeln an. Genau wie der Ort, wo man Hope Nelsons Körper gefunden hatte.
Jake unterdrückte ein Seufzen, als er sich dieses baumelnde, scheußliche Bündel vorstellte …
Unter anderen Umständen wäre dies ein netter Ort für einen Besuch.
Er nahm an, dass es einen auffallend kranken Menschen brauchte, um so ein grässliches Objekt in einer so schönen Umgebung zurückzulassen.
War Phil Cardin ein solcher Mensch?
Könnte sein Bruder so jemand sein?
Jake ging bei dem Zaunpfosten in die Knie und atmete tief und langsam durch. Er hoffte, ein Gefühl zu erhaschen, was dort wohl passiert war. Jake war bekannt dafür, dass seine Intuition an Tatorten auf die Sprünge kam und er oft ein verblüffendes Gefühl für die Denkweise eines Kriminellen entwickelte. Jake kannte niemanden anderen, der das beherrschte – außer vielleicht der jungen Riley Sweeney. Aber ihr Instinkt war noch sehr schwankend und ungebändigt.
An diesem Morgen am anderen Schauplatz des Verbrechens hatte Jake nicht einmal eine derartige Verbindung herstellen können – nicht mit dem ganzen Tumult, der da um ihn herum getobt hatte und dazu noch die Ankunft des Helikopters dieses TV-Senders.
Klappt es jetzt? fragte er sich.
Jake schloss die Augen und konzentrierte sich. Er versuchte, irgendeine Art von Bauchgefühl zu bekommen.
Es kam nichts.
Als er seine Augen öffnete, sah er drei schwarz-weiße Black Angus Kühe, die herbeigewandert waren und ihn neugierig ansahen. Er fragte sich, ob sie gesehen hatten, was in jener Nacht passiert war? Falls ja, hatte das blanke Entsetzen, dessen sie Zeugen geworden waren, irgendeine Auswirkung auf sie gehabt?
»Wenn ihr nur sprechen könntet,« murmelte Jake den Kühen zu.
Er erhob sich und fühlte sich vollkommen entmutigt.
Es war Zeit, wieder nach Dighton hinüberzufahren und beim Spurensicherungsteam vorbeizuschauen. Er würde sich die Notizen des Tages noch einmal ansehen und dann im einzigen Motel der Stadt zum Schlafen hinlegen. Dann am nächsten Tag früh aufstehen. Jake hatte noch ein paar unerledigte Sachen in Dighton zu Ende zu bringen, darunter ein ernstes Gespräch mit dem Ehemann von Hope Nelson, dem Bürgermeister von Dighton. Mason Nelson war noch zu sehr unter Schock gestanden, als dass Jake mit ihm am Tatort hätte reden können.
Was die Bestimmung von Harvey Cardins möglichem Aufenthaltsort anging, wusste Jake, dass das weder ein Job für die örtlichen Polizisten, noch für das Spurensicherungsteam war. Er würde technische Unterstützung aus Quantico anfordern müssen.
Er sagte zu Sheriff Tallhamer: »Bringen Sie mich zu meinem Wagen, ich muss los.«
Aber ehe er in das Auto des Sheriffs einsteigen konnte, sah er, dass sich ein Lieferwagen mit dem Logo eines TV-Senders näherte. Der Lieferwagen hielt in der Nähe und eine Crew mit Beleuchtung, Kamera und einem Mikrofon quoll heraus.
Jake stöhnte verzweifelt auf.
Dieses Mal konnte er den Medien nicht entkommen.
Kapitel neun
Riley war enttäuscht, als sie nach einem Tag voller Führungen, Kursen und ihrem ersten Abendessen in der Cafeteria der Akademie den Computerraum aufgesucht hatte. Immer noch keine E-Mail von Ryan. Im Moment waren ihr die anderen Mails im Posteingangsfach egal.
Letzte Nacht hatte sie Ryan eine E-Mail geschickt, um ihn zu informieren, dass sie in Quantico angekommen und eingezogen war. Sie hatte keine Antwort von ihm bekommen. Sie fragte sich – sollte sie ihm jetzt noch eine Nachricht schicken und von ihrem Tag hier erzählen? Oder sollte sie ihn anrufen?
Riley seufzte tief, als sie versuchte, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken …
Er ist immer noch sauer.
Sie fragte sich, ob sie vielleicht einen Fehler begangen hatte, als sie den erstmöglichen Zug nach Quantico genommen hatte. Vielleicht hätte sie erst zurück zur gemeinsamen Wohnung fahren, mit Ryan reden und herausfinden sollen, wie die Dinge zwischen ihnen standen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie das jemals hinkriegen sollte, wenn sie auf diese Weise getrennt waren.
Aber sie kehrte stets zu demselben Gedanken zurück …
Wenn ich gestern heimgefahren wäre, würde ich vermutlich immer noch dort sein.
Sie beschloss, dass das Beste war, im Moment gar nichts weiter zu tun. Vielleicht schickte sie Ryan morgen früh eine weitere E-Mail.
Eine andere E-Mail im Posteingangsfach war Spam und wurde gleich von Riley gelöscht. Aber als die die letzte weitere öffnete, war sie verstört und beunruhigt.